Auf großer Bühne – der Mössinger Streik gegen Hitler

Ein Kommentar

31. Januar 1933 | Nur ein kleiner, von unbeugsamen Schwaben bewohnter Ort leistete Widerstand. Eigentlich wollte die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) die Machtübergabe an Adolf Hitler mit einem nationalen „Massenstreik“ beantworten. Aber die „Massen“ wollten nicht so recht mitmachen. Allein im 4.000 Einwohner großen Mössingen folgten fast 1.000 Arbeiterinnen und Arbeiter tatsächlich dem Aufruf zur Arbeitsniederlegung. Ausgerechnet hier, weit weg vom roten Berlin, am Rand der Schwäbischen Alb.

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Am 31. Januar 1933 versammelten sich 100 Menschen um 12 Uhr vor der Langgas Turnhalle. Mössingen war ein regionales Zentrum der Textilindustrie. Also zogen die Demonstrierenden von einer Textilfabrik zur nächsten. Zunächst zur Mechanischen Weberei Pausa, wo sich nach einer eindringlichen Rede des KPD-Unterbezirkschefs Fritz Wandel ein Großteil der Belegschaft anschloss, danach ging es weiter zur Trikotwarenfabrik Merz und schließlich zur Buntweberei Burkhardt. Bei Merz stieß der Zug auf keinerlei Verständnis, nicht nur der Eigentümer, auch die meisten Arbeiterinnen weigerten sich, mitzumachen. Und bei Burkhardt waren die Tore bereits verschlossen. Bei der Rückkehr zur Turnhalle warteten 40 Reutlinger Schutzpolizisten mit Gummiknüppeln auf die Streikenden. Über 70 Teilnehmende wurden verurteilt, darunter die Anführer des Streiks Jakob Stotz, Fritz Wandel und Martin Meier zu bis zu zweijährigen Gefängnisstrafen.

Zum 80. Jahrestag brachte das Theater Lindenhof im Jahr 2013 die Geschichte des Streiks in einer alten Werkshalle der Textilfirma Pausa auf die Bühne. Rund 100 Laiendarsteller und 50 Musiker aus Mössingen und Umgebung erarbeiteten sich dafür das Stück von Franz Xaver Ott „Ein Dorf im Widerstand“. Die Rundfunkjournalistin Katharina Thoms, die ursprünglich nur einen Beitrag über den Streik hatte anfertigen wollen, entschloss sich dazu, einen Dokumentarfilm daraus zu machen. Sie verfolgte monatelang mit der Kamera die Proben und beobachtete, wie sich die Mössinger ihrer vor Ort sehr kontrovers beurteilten Geschichte annäherten. Das Stück wurde rund 40 Mal aufgeführt, Thoms Film „Widerstand ist Pflicht“ feierte seine Premiere am 31. Januar 2015.


Zum Weiterlesen und -forschen:

/// Schneller, als die Polizei erlaubt? Schon morgen erscheint unser nächster Kalendereintrag.

Vielfalt in der Schule – die Petition gegen den Bildungsplan 2015

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30. Januar 2014 | Was bedeutet Toleranz? Was heißt Vielfalt? Wie werden Kinder an Schulen diskriminiert? Wie werden Leitbilder für die Lehrpläne festgelegt? Wie sieht gesellschaftliche Teilhabe an der Schule aus? Und letztlich auch: Wie wollen wir miteinander reden?

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All diese Fragen löste eine Petition aus, die am 30. Januar 2014 dem zuständigen Petitions-Ausschuss des Landtags in Stuttgart übergeben wurde. Gabriel Stängle, Lehrer an einer Realschule in Nagold, hatte sie unter dem Titel „Zukunft – Verantwortung – Lernen: Kein Bildungsplan 2015 unter der Ideologie des Regenbogens“ verfasst und überreichte sie zusammen mit 192.000 Unterschriften (darunter 82.000 aus Baden-Württemberg), von denen die meisten digital erfolgt waren. Ein Arbeitspapier des Kultusministeriums für den neuen Bildungsplan 2015, in dem die „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ als Querschnittsthema im Unterricht vorgesehen war, bildete den Stein des Anstoßes. Stängle erkannte darin eine „pädagogische, moralische und ideologische Umerziehung“.

Es folgten eine Gegenpetition und eine teilweise hochemotionale Auseinandersetzung, mit wechselseitigen Anschuldigungen und Beleidigungen, wie sie im Internet-Zeitalter leider üblich geworden sind. Die eigentlich spannenden Fragen (siehe oben) rückten immer mehr in den Hintergrund.

Die Petition selbst wurde zwar vom Ausschuss am 8. Oktober 2014 abgelehnt, völlig wirkungslos blieb sie dennoch nicht. Das Ministerium verschob die Einführung des Bildungsplans und wählte allgemeinere Formulierungen.


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/// Morgen befassen wir uns mit einem einsamen Generalstreik.

Gegen den Beamtenstaat – Friedrich List und die Reutlinger Petition

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28. Januar 1821 | Dieser Abgeordnete hatte keine Zeit zu verlieren. Die Krise im Land war zu groß, seine Anliegen duldeten keinen Aufschub. Erst am 4. Dezember 1820 war der 30-jährige Friedrich List in einer Nachwahl in die Württembergische Zweite Kammer gewählt worden und schon am 13. Dezember hielt er im Landtag eine große Rede zur verfehlten Handels- und Gewerbepolitik. Bei den Wählern in seiner Geburtsstadt Reutlingen kam er damit glänzend an. Eine Woche nach seiner Rede übergaben sie ihm eine Aufstellung ihrer Beschwerden. List machte daraus eine umfassende Eingabe an den Landtag und ließ Mitte Januar in Stuttgart gleich 644 Exemplare davon drucken: Die Reutlinger Petition sollte im ganzen Königreich gelesen werden.

Bereits der Anfang des Textes war furios:

„Ein oberflächlicher Blick schon auf die inneren Verhältnisse Württembergs muss den unbefangenen Beobachter überzeugen, dass die Gesetzgebung und Verwaltung unseres Vaterlandes an Grundgebrechen leiden, welche das Mark des Landes verzehren und die bürgerliche Freiheit vernichten.“

In diesem Stil setzte sich die Anklage fort:

„Wo man hinsieht, nichts als Räte, Beamte, Kanzleien, Amtsgehilfen, Schreiber, Registraturen, Aktenkapseln, Amtsuniformen, Wohlleben und Luxus der Angestellten bis zum Diener herab.“

Und die Bevölkerung müsse deren Ignoranz und Willkür ausbaden. Abhilfe sollte eine 40 Punkte umfassende Reform schaffen, darunter die Trennung von Verwaltung und Rechtsprechung, eine größere Mitsprache der Bürgerschaft, eine Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung und eine Reduzierung der Beamtenschaft.

Seine Petition brachte die Staatsmacht in Rage: Friedrich List.
Seine Petition brachte die Staatsmacht in Rage: Friedrich List (Bildnachweis: Heimatmuseum Reutlingen, Einfärbung HdGBW/Hemberger).

Es kam, wie es kommen musste. Ein Mitarbeiter der Druckerei zeigte List an und die Staatsgewalt schlug mit aller Härte zu. List antwortete mit einer Rechtfertigungsschrift, die aber unverzüglich beschlagnahmt wurde. Rückendeckung erhielt er stattdessen aus Reutlingen. 145 Bürger bekräftigten am 28. Januar 1821 ihre Unterstützung für die Petition: „Unterzeichnete Bürger von Reutlingen erklären hiermit, dass es ihrem und vieler, ja wohl aller ihrer Mitbürger Wunsch und Willen gemäß war (…).“

List nutzte die Solidarität nichts. Der Landtag entzog ihm das Mandat, die Justiz verurteilte ihn „wegen Staatsverbrechen“, König Wilhelm kannte keinerlei Gnade und List musste nach einer vorläufigen Flucht fünf Monate lang Einzelhaft auf dem Hohenasperg erleiden, bevor er nach Amerika auswandern konnte.

Die Meinungsfreiheit, auf die sich List berief, war im Königreich nicht erwünscht.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Stadt Reutlingen (Hg.): Friedrich List und seine Zeit. Nationalökonom-Eisenbahnpionier-Politiker-Publizist, 1789-1846, Reutlingen 1989.

/// Am 30. Januar stehen Unterschriften erneut im Mittelpunkt unserer Kalendereintrags.

Die schwäbische Vogelmutter – Lina Hähnle und der „Bund für Vogelschutz“

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23. Januar 1899 | „Viele Vögel, welche früher sehr häufig waren, sind selten geworden, aus einigen Gegenden ganz verschwunden.“ Diese erschreckend aktuell klingende Feststellung stammt nicht von der jüngsten Vogelzählung. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts brachte Lina Hähnle ihre tiefe Besorgnis über einen langfristigen dramatischen Rückgang der Vögel zum Ausdruck: „Seit Jahrzehnten macht sich eine rasche Abnahme unserer gefiederten Sänger in Wald und Feld mehr und mehr bemerkbar.“ In ihrem Aufruf für die Gründung eines „Bundes für Vogelschutz“ am 23. Januar 1899 machte Hähnle vor allem den Menschen verantwortlich dafür: die Beseitigung der Heckenlandschaften, die Nutzung der Vögel als Lebensmittel und nicht zuletzt die Ausbeutung durch die Modeindustrie, die für den Hutschmuck die Federn von Millionen von Vögeln tötete.

Ihr unwiderstehliches Charisma sowie die große Fähigkeit zu organisieren und tatkräftig anzupacken, machten Lina Hähnle zu einem Glücksfall für den Naturschutz. Zunächst führte sie 1898 die vielen lokalen Initiativen in Württemberg zum „Schwäbischen Bund der Vogelfreunde“ zusammen.

Sie wollte die bedrohten "gefiederten Sänger" schützen: Lina Hähnle (Bildnachweis: NABU-Archiv).
Sie wollte die bedrohten „gefiederten Sänger“ schützen: Lina Hähnle (Bildnachweis: NABU-Archiv; Bearbeitung: HdG BW).

Am 15. Dezember 1898 wurde der nächste Schritt beschlossen. Nach öster-reichischem Vorbild plante sie einen schlagkräftigen nationalen Verband: Am 1. Februar 1899 entstand in der Stuttgarter Liederhalle der angekündigte „Bund für Vogelschutz“. Der heutige „Naturschutzbund Deutschland“ (NABU) hat hier seine Anfänge.

Hähnles Netzwerke in Württemberg erleichterten ihr den Start. Die am 3. Februar 1851 in Sulz am Neckar geborene Hähnle gehörte zum Bürgertum. Ihr Mann Hans Hähnle, Filzfabrikant in Giengen an der Brenz, verfügte als langjähriger liberaler Reichstagsabgeordneter über vielfältige Kontakte zu Politik, Wirtschaft und Kirche. Zu den regelmäßigen Spendern für den Vogelschutzbund zählte zum Beispiel Robert Bosch, der aus dem nicht weit von Giengen entfernten Albeck stammte. Wichtige Impulse kamen auch von den im Tübinger Stift ausgebildeten evangelischen Theologen, die frühzeitig für die Bewahrung der göttlichen Schöpfung eintraten. Allein in Württemberg traten 1899 rund 3500 Mitglieder in den Bund ein. Der bewusst niedrig gehaltene Mitgliedsbeitrag ebnete den Weg zu einem breit in der Bevölkerung verankerten Verband.

Hähnle bewies nicht zuletzt im Umgang mit der Politik großes Geschick. Sie steuerte ihren Verband sehr anpassungsfähig fast 40 Jahre als Vorsitzende durch drei völlig verschiedene politische Systeme: das Kaiserreich, die Weimarer Republik und bis Ende 1937 auch durch die NS-Diktatur.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Hans-Werner Frohn/Jürgen Rosebrock (Hgg.): Spurensuche – Lina Hähnle und die demokratischen Wurzeln des Naturschutzes, Essen 2017.
  • Horst Hanemann/Jürgen M. Simon: Die Chronik eines Naturschutzverbandes von 1899-1984, Wiesbaden 1987.
  • Hansjörg Küster: Lina Hähnle in den Netzwerken Württembergs, in: Frohn/ Rosebrock (Hgg): Spurensuche – Lina Hähnle und die demokratischen Wurzeln des Naturschutzes, Essen 2017,  S. 57-66.
  • Anna-Katharina Wöbse: Lina Hähnle (1851-1941): Vogelschutz in drei Systemen, in: ebd., S. 35-56.

/// Am 28. Januar berichten wir über eine Petition, die der Staatsmacht missfiel. Bleiben Sie gespannt!

Die erste Rede – Marianne Weber spricht Geschichte

Ein Kommentar

15. Januar 1919 | Klara Siebert und Therese Blase hatten Pech. Sie waren nur Nummer zwei und drei. Denn unmittelbar vor ihnen schrieb, besser gesagt, sprach Marianne Weber Geschichte: Als erste Frau hielt sie am 15. Januar 1919 eine Rede zur Eröffnung der Badischen Nationalversammlung im Karlsruher Ständehaus. Die 48jährige Abgeordnete der liberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) war damit auch die allererste Rednerin in einem deutschen Parlament überhaupt.

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Mit großer Vehemenz hatte Weber in den Jahren davor als Vorsitzende des Heidelberger Vereins „Frauenbildung und Frauenstudium“ für gleiche Bildungschancen von Frau und Mann gearbeitet. Die Chance, in der erstmals auch von Frauen gewählten Badischen Nationalversammlung an der neuen Verfassung mitzuwirken, versuchte sie genauso tatkräftig zu nutzen. Wie sie sich in ihrer 1948 veröffentlichten Autobiografie erinnerte, schickte sie nicht nur ihre Mitarbeiterinnen als Rednerinnen zu Wahlkampfveranstaltungen bis nach Konstanz und Lörrach: „Ich selbst reiste ebenfalls im Land herum mit wohlvorbereitenden Manuskripten in der Mappe.“

Die einzige Frau der DDP-Fraktion sammelte eindrückliche Erfahrungen mit ihren meist Zigarre rauchenden Kollegen: „Als ich zum ersten Mal im Fraktionszimmer erschien, richteten sich 24 Augenpaare auf eine Neuerscheinung, die von manchen ihrer Eigentümer denn doch als lästiger Eindringling in den männlichen Herrschaftsbereich angesehen wurde.“ Unvergesslich auch das Fest, das aus Anlass ihrer ersten Rede gehalten wurde: „Es erschien ein seit Jahren nicht mehr gesehener ländlicher Schinken, dessen bloßer Anblick scharfe Essbegier anreizte, dann duftender Kuchen aus den Händen einer Pfarrfrau, über die Schweizer Grenze verschobener echter Tee, Zigarren mit Leibbinden kamen zum Vorschein, auch das Blut der Erde, der Geist und Witz beflügelnde Wein. Die Fraktionsfrau durfte überdies für den zierlichen Schmuck der Tafel und Scherzverse sorgen. Dann begann ein Gelage, bei dem einigen der städtischen Hungerleider angesichts der Schinkenstücke auf ihrem Teller die Augen aus dem Kopf traten.“

Im Parlament ergriff die Abgeordnete Weber-Heidelberg noch mehrfach das Wort, fragte nach dem „Schutz der weiblichen Angestellten und Arbeiter gegen Erwerbslosigkeit“ oder referierte als Berichterstatterin über den „Ausschluss weiblicher Studierender vom Studium an der Universität“. Im Oktober 1919 beendete Marianne Weber bereits vorzeitig ihre eigene Politikerinnenkarriere: Sie folgte ihrem Mann Max, der eine Berufung an die Universität München erhalten hatte. Aber dort zog sie sich nicht ins Privatleben zurück, sondern übernahm den einflussreichen Vorsitz des Bundes deutscher Frauenvereine.


Zum Weiterlesen und -forschen:

/// Am 19. Januar decken wir ein neues Kalenderblatt auf. Eine Gemeinde lässt sich „ihren“ Pfarrer nicht nehmen.

 

 

Erste Wahl (Teil 2) – die wilden 13 und das Frauenwahlrecht

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12. Januar 1919 | Genau einen Monat nach Verkündigung des Frauenwahlrechts folgte auch in Württemberg die Premiere für die Frauen. „In großen Mengen kamen sie, allein und mit ihren Männern“, beobachtete die „Schwäbische Chronik“ am 12. Januar 1919 die Wahlen zur Württembergischen Landesversammlung in Stuttgart und fügte gönnerhaft hinzu: „Man las ihnen meist das Bewusstsein eines großen Augenblicks von den Zügen; sie fanden sich im Ganzen alsbald in die einfachen Förmlichkeiten der Wahlhandlung und gaben gewichtig ihren blauen Wahlbrief ab, auf dessen Stempel noch das „K.(önigliche) Ministerium des Innern“ prangte.

Nicht nur die Herren von der Presse mussten sich erst an den neuen Anblick in den Wahllokalen gewöhnen. Für die meisten Frauen selbst kam die schnelle Gleichstellung eher überraschend. In Württemberg hatte es nicht gerade eine starke und drängende Frauenbewegung gegeben. Erst kurz vor dem Krieg waren in Stuttgart, Ulm und Tübingen Ortsgruppen des „Württembergischen Vereins für das Frauenstimmrecht“ entstanden. Die meisten Frauen schienen sich mit einer stärkeren Beteiligung auf kommunaler Ebene zufrieden zu geben. Entsprechend bescheiden waren auch jetzt die Frauen auf den Wahllisten der Parteien vertreten. Gerade einmal 13 von 150 Sitzen in der verfassunggebenden Landesversammlung wurden an Frauen vergeben.

Aber in dieser 13er Gruppe befanden sich dafür höchst bemerkenswerte Politikerinnen. Die aus bester Familie stammende Zentrumsabgeordnete Amelié von Soden gehörte ebenso dazu wie die Sozialistin Clara Zetkin.

Herausragend waren auch die beiden Gründungsmitglieder der neuen liberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP), Mathilde Planck und Thekla Kauffmann, die sich beide bereits seit längerem für ein wirklich „allgemeines“ Wahlrecht eingesetzt hatten. Die 1861 in Ulm geborene Planck galt als eine der renommiertesten Köpfe der Frauen- und Friedensbewegung im Südwesten. In den 1920er Jahren engagierte sie sich zusätzlich bei der von ihr mitgegründeten Bausparkasse Wüstenrot.

Die am 18. Januar 1883 in Stuttgart zur Welt gekommene Thekla Kauffmann war die einzige jüdische Abgeordnete der Landesversammlung. Die Cousine von Otto Hirsch, maßgeblicher Mann beim Ausbau des Neckars und in der NS-Zeit heldenhafter Vorstand der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, blieb in der Frauenfrage aktiv. Im Juni 1920 vertrat sie Deutschland auf dem achten Kongress der „International Woman Suffrage Alliance“ in Genf, wo weiter für das Wahlrecht der Frauen gekämpft wurde. Nach dem Ausscheiden aus dem Parlament 1920 übernahm sie eine Abteilungsleitung im Landesarbeitsamt. Nach 1933 versuchte sie verzweifelt, jüdische Emigrantinnen und Emigranten zu unterstützen. Sie selbst konnte im April 1941 von Lissabon nach New York entkommen.


Zum Weiterlesen und -forschen:

/// Eine Politikerin spricht offen und frei. Mehr hierzu in unserem nächsten Kalendereintrag am 15. Januar.

Erste Wahl (Teil 1) – Maria Anna Beyerle und das Frauenwahlrecht

Ein Kommentar

5. Januar 1919 | Auch beim Frauenwahlrecht war Baden wieder ganz vorne. Na ja, fast. Wir wollen die Kleinen im Norden nicht völlig vergessen. Die beiden Freistaaten Mecklenburg-Strelitz und Braunschweig (die es wirklich gab!) ließen ihre Frauen bei den Wahlen am 15. und 22. Dezember 1918 noch einen Tick schneller mitmachen. In Baden wurde erst am 5. Januar 1919 die Badische Nationalversammlung gewählt, die dem Land nach der Novemberrevolution und der Abdankung des Großherzogs eine neue Verfassung geben sollte. Erstmals durften die Frauen auf Landesebene wählen. Als eines der ersten Ergebnisse der Revolution hatte in Berlin der Rat der Volksbeauftragten am 12. November 1918 das Frauenwahlrecht verfügt: „Alle Wahlen zu öffentlichen Körperschaften sind fortan nach dem gleichen, geheimen, direkten, allgemeinen Wahlrecht auf Grund des proportionalen Wahlsystem für alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen zu vollziehen.“

In Baden machten die Frauen eifrig Gebrauch davon. Die hohe Gesamtwahlbeteiligung von 88 % der Wahlberechtigten verdankte sich wesentlich ihnen. Die Premiere des aktiven Wahlrechts gelang also eindrucksvoll – beim passiven Wahlrecht sah es hingegen schon damals nicht so gut aus. Von den 107 Abgeordneten waren gerade einmal neun weiblich. Die katholische Zentrumspartei und die Sozialdemokraten hatten jeweils vier Parlamentarierinnen in ihren Reihen, die liberale Deutsche Demokratische Partei (DDP), mit immerhin 22 % der Stimmen, entsandte nur eine einzige Frau.

Marianne Bayerle
Maria Anna Bayerle (Bildnachweis: Generallandesarchiv Karlsruhe 231 Nr. 2937 (833); bearb.: HdGBW)

Eine dieser Pionierinnen war Maria Anna Beyerle. Die 1882 in Konstanz geborene Lehrerin hatte sich führend bei karitativen Organisationen und beim Verein Katholischer Deutscher Lehrerinnen engagiert und dabei genügend Erfahrungen für eine politische Karriere gesammelt. Als Zentrums-Abgeordnete für den Wahlkreis Konstanz widmete sie sich in der verfassung-gebenden Versammlung und später im Badischen Landtag vor allem bildungs- und sozialpolitischen Themen. Sie schied 1928 aus dem Landtag, um höhere Funktionen an verschiedenen Schulen in Karlsruhe, Freiburg und Konstanz übernehmen zu können. Nach dem Zweiten Weltkrieg zählte sie in Konstanz zu den Gründungsmitgliedern der Badisch Christlich-Sozialen Volkspartei (BCSV), dem Vorläufer der CDU in Südbaden. Von 1947 bis 1952 gehörte sie dem Badischen Landtag in Freiburg an – als einzige Frau in ihrer Fraktion.


Zum Weiterlesen und -forschen:

Die Basis der Freiheit – die Verkündung der Grundrechte

Ein Kommentar

27. Dezember 1848 | Sie gehören zu den Losern der deutschen Geschichte. Die Revolutionäre von 1848 sind an allem schuld. Wegen ihrer Unfähigkeit entstand der deutsche Obrigkeitsstaat, durfte die Arbeiterklasse nicht ihre Diktatur errichten, musste die Weimarer Republik scheitern und konnte Hitler ungestört sein Massenmorden durchführen. Für den Klimawandel sind sie vermutlich auch verantwortlich.

Des Volkes Stimme | Die Basis der Freiheit – die Erklärung der Grundrechte

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Okay, die 48er haben keine „richtige“ Revolution gemacht, der preußische König behielt seinen Kopf und auch sonst floss einfach zu wenig Blut (das machten die Franzosen und vor allem die Russen viel besser). Aber in einer wahrhaftig nicht einfachen Situation (in kürzester Zeit „Deutschland“ erfinden und dann auch noch freiheitlich ausgestalten!), erreichten sie gar nicht so wenig. Zu den unbestrittenen Erfolgen der Abgeordneten der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche (die keineswegs nur Professoren waren, die nur endlos redeten) zählt die „Verkündung der Grundrechte des deutschen Volkes“. Die Rechte, die Reichsverweser Erzherzog Johann am 27. Dezember 1848 unterzeichnete, sind bis heute grundlegend für unsere Freiheitsrechte. So fortschrittlich die badische Verfassung von 1818 und die württembergische Verfassung von 1819 auch in vielen Punkten waren – die Grundrechte der Paulskirche brachten eine neue, bis dahin in den deutschen Staaten nicht gekannte Qualität: Sie beseitigten die immer noch vorhandene Vorrechte des Adels und proklamierten eine Gesellschaft freier Bürger. Hier bekam die deutsche Geschichte ihren Tag, der sich auf Augenhöhe mit der französischen Menschenrechtserklärung von 1789 befindet.

Direkt daran beteiligt war übrigens ein Heidelberger Professor (!), der aus Stuttgart stammte. Robert Mohl hatte bereits mit anderen Köpfen aus dem Südwesten wie Friedrich Daniel Bassermann und Karl Theodor Welcker ab dem 24. Mai 1848 im Verfassungsausschuss die grundlegende Arbeit an den Fundamenten eines Rechtsstaats begonnen. Dort wurde auch der passende Begriff „Grundrechte“ erfunden. Als Justizminister der deutschen Zentralregierung setzte Mohl nach Erzherzog Johann seine Unterschrift unter die Grundrechte.

In Württemberg wurden die Grundrechte bereits dem Regierungsblatt vom 31. Dezember 1848 beigelegt. Und Württemberg blieb der schnellste Staat: Ab dem 17. Januar 1849 hatten die Grundrechte für das Königreich verbindende Kraft. Baden folgte einen Tag später. Aber wichtige Staaten wie Österreich, Preußen, Bayern oder Hannover verweigerten die Verkündung. Damit nahmen sie das weitere Schicksal der Grundrechte bereits vorweg. Am 23. August 1851 beschloss die nachrevolutionäre Bundesversammlung ihre Aufhebung – ein rabenschwarzer Tag in der deutschen Geschichte.


/// Kurz vor Jahresschluss noch etwas lesen? Gerne doch! Unser nächster Eintrag am 31. Dezember widmet sich einer Stuttgarter Bücherschmiede!

Kerzen gegen das Dunkel – die Stuttgarter Lichterkette

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20. Dezember 1992 | Advent, Advent, ein Lichtlein brennt, erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier… An diesem 4. Adventssonntag brannten aber nicht nur vier Kerzen: Um 17.30 leuchteten mehr als 120.000 Lichter in Stuttgart auf. Die Kette der TeilnehmerInnen reichte über 11 km lang vom Erwin-Schoettle-Platz in Heslach bis zum Marktplatz in Bad Cannstatt. Die politische Prominenz fehlte ebenfalls nicht: Ministerpräsident Erwin Teufel, Wirtschaftsminister Dieter Spöri und Oberbürgermeister Manfred Rommel hatten sich vor dem Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus vor dem Alten Schloss eingereiht. Auch in Karlsruhe und Tübingen fanden Aktionen statt.

Des Volkes Stimme | Kerzen gegen das Dunkel – die Stuttgarter Lichterkette

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Zuvor waren bereits am 6. Dezember 1992 in München rund 400.000 Menschen in einer Lichterkette gegen „Fremdenhass“ auf die Straße gegangen. Den Auslöser dafür hatte die dramatische Zunahme von ausländerfeindlichen Straftaten nach den gewalttätigen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen im August 1992 geliefert. Auch in Baden-Württemberg war es zu Angriffen gekommen. In Mannheim hatten am 28. Mai Anwohner in Schönau ein Flüchtlingsheim angegriffen. Allein in Stuttgart wurden innerhalb eines Jahres rund 100 fremdenfeindliche Straftaten gezählt.

Dem Münchener Beispiel wollte vor allem die 51-jährige Ingeborg Höch folgen. Der Initiative der im Stadtbezirk Weilimdorf lebenden Autorin und Lektorin war es zu verdanken, dass auch in Stuttgart ein Zeichen gesetzt werden konnte. Oder wie es ein Mechanikmeister aus Cannstatt formulierte: „Das ist eine stille Demonstration dafür, dass die Mehrheit der Deutschen nicht zu den Rechten gehört.“

Um 18.20 Uhr löste sich die Lichterkette wieder auf.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Thomas Fliege/Kurt Möller (Hg.): Rechtsextremismus in Baden-Württemberg. Verborgene Strukturen der Rechten, Freiburg 2001.
  • Josef Held/u.a.: Rechtsextremismus und sein Umfeld : eine Regionalstudie und die Folgen für die Praxis, Hamburg 2008.

/// Zwischen den Jahren, am 27. Dezember, dürfen Sie sich auf das nächste Kalenderblatt freuen.

Freiheit für Mögglingen – der lange Weg für eine Umgehung

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18. Dezember 1999 | Diese Dame ist 46 Meter groß, allein ihre Nase ist 1,37 Meter lang. Seit 1886 steht sie auf einer kleinen Insel. Wer die Freiheitsstatue sehen will, muss aber gar nicht erst nach New York City fliegen – er kann sie auch in Mögglingen ansehen. Zugegeben, in Mögglingen befindet sie sich erst seit 1999 und die ganze Größe hat sie auch nicht. Der Weg zu ihr ist auch nicht ganz ungefährlich: Weit mehr als 30.000 Fahrzeuge brummen täglich an ihr vorbei.

Miss Liberty im Ostalbkreis, Protest für den Bau der Umgehungsstraße Mögglingen
Miss Liberty im Ostalbkreis: Protest für den Bau der Umgehungsstraße Mögglingen (Bildnachweis: Ottmar Schweizer)

Die B29 führt direkt durch die 4.300 Einwohner große Gemeinde. Die Verbindung von Stuttgart nach Aalen und zur A7 ist eine der wichtigsten Ost-West-Verbindungen im Land. Seit Ende der 1950er Jahre wurde nach einer Lösung gesucht, doch nichts geschah. Nur der Verkehr wuchs stetig weiter an, für die Bewohner eine zunehmend unerträgliche Situation. Lärm, Abgase, Unfallgefahr und Wertverlust der Häuser – die Lebensqualität geriet wortwörtlich „unter die Räder“. Dass es so nicht weitergehen konnte, war allen klar. Aber wohin sollte der Verkehr? Auf einer neuen Straße südlich vorbei geführt werden? Oder durch einen Tunnel unter der Gemeinde verschwinden?

Als 1990 diese zwei Alternativen auf dem Tisch lagen, entzweite sich die Gemeinde im Streit darüber. Zwei Bürgerinitiativen entstanden: „B 29 raus“ wollte die Südumgehung, während sich „Bürger für Natur- und Umweltschutz unterm Rosenstein“ für die Tunnelvariante stark machte. Ein Bürgerentscheid im Februar 1991 brachte eine Mehrheit für die Umgehungsstraße und auch bei einem zweiten Entscheid im Juli 1999 stimmten fast 60 % erneut gegen den Tunnel. Für die „Bürger für Natur- und Umweltschutz unterm Rosenstein“ war das eine herbe Enttäuschung. Die am 18. Dezember 1999 aufgestellte Freiheitsstatue geriet so zum Symbol für die Trennung. Während die Unterstützer von „B29 raus“ die Statue als Mahnung an die Landes- und Bundespolitiker verstanden, nun endlich „Freiheit für Mögglingen“ zu schaffen, erinnerte es die unterlegenen Tunnelbefürworter an ihre Niederlage.

So oder so - Visualisierung der Umgehungsstraße bei Mögglingen
So oder so – Visualisierung der Umgehungsstraße bei Mögglingen vor Baubeginn (Bildnachweis: Bürger für Natur- und Umweltschutz unterm Rosenstein)

Im Juli 2014 kam vom Bundesverkehrs­ministerium die Zusage für die Umgehungsstraße. Inzwischen steht der Bau kurz vor seinem Abschluss. Die Gegner von einst sehen die Straße immer noch skeptisch. Aber sie sind nicht resigniert im Abseits verharrt. Der Verein „Bürger für Natur- und Umweltschutz unterm Rosenstein“ hat sich neu orientiert und engagiert sich nun nicht zuletzt im Obst- und Gartenbau.

Und wenn Sie die Miss Liberty der Ostalb noch sehen wollen, müssen Sie sich beeilen: Zur Eröffnung der neuen Straße wird die Freiheitsstatue abgebaut werden. Aber bitte nicht mit dem Auto kommen!


Zum Weiterlesen und -forschen:

/// Es werde Licht gegen den Fremdenhass. Am 20. Dezember folgt unser nächster Kalendereintrag.

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