3. März 1974 | Mit Speck fängt man Mäuse, und mit „Rebellenwurst“ Wählerinnen und Wähler? Wenn diese Wurst auch noch von einem Obsthändler großzügig verteilt wird, befinden wir uns mitten in einem der kuriosesten Kommunalwahlkämpfe der jüngeren Vergangenheit. Insgesamt rund 300 Mal versuchte der Ausnahmepolitiker Helmut Palmer seit Mitte der 1960er Jahre bis in die 90er in verschiedenen Kommunen und Städten Baden-Württembergs auf einen Bürgermeisterstuhl gehoben zu werden – stets erfolglos. Für die einen war er ein „Volkstribun“, ein schwäbischer Don Quijote gegen Bürokraten und Amtsstubenherrschaft, einer „für den kleinen Mann“. Für andere wiederum ein „kleiner Adolf“, ein ungehobelter Querulant des Politgeschäfts oder schlichtweg ein Verrückter.
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Anlässlich der Oberbürgermeisterwahl in Schwäbisch Hall im Februar/März 1974 lieferte Palmer sein Meisterstück ab. Er wetterte gegen die Stadtverwaltung und deren vermeintliche Faulheit, beleidigte auf das heftigste politische Mitbewerber und sonstige Palmer-Gegner („Schleimscheißer“; „Lausbub“; „Sudelsäue“). Doch Palmer war auch ein Visionär: Er forderte den Bau einer Seilbahn, eines Parkhauses über dem Fluss Kocher, eine autofreie Innenstadt und Maßnahmen zur Verbesserung der Verkehrssicherheit (wenn auch mit fraglichen Mitteln, wenn er eigenmächtig zum Fällen von Bäumen an Straßen aufrief). Menschen, die sich von den etablierten Politikern nicht gehört und ernstgenommen fühlten, setzten ihre Hoffnung auf den Unabhängigen. Zudem erfuhr der Remstalrebell finanzielle Unterstützung durch einen lokalen Unternehmer, der noch eine Rechnung mit der Stadtverwaltung offen hatte. Gemeinsam mit den Spenden seiner Fans konnte Palmer einen Vollzeitwahlkampf aufziehen. Nach gewonnenen erstem Wahlgang – er holte rund 41 %, sein nächster Mitbewerber, der von der CDU unterstützte Karl-Friedrich Binder, lediglich 30 % – stand die Kleinstadt politisch Kopf und eine Stichwahl musste die Entscheidung bringen. Die Augen Westdeutschlands waren auf die ehemalige Reichsstadt gerichtet.
Als am 3. März 1974 Helmut Palmer sich mit 41,4 % dem konservativen Platzhirsch Binder geschlagen geben musste, war des Rebellen Geist nicht gebrochen. Tausende SympathisantInnen jubelten ihm zu, während Palmer vom Marktplatzpranger herab von einem „ergaunerten Wahlsieg“ des „Schmutzlappen“ Binders sprach.
Palmers größter Erfolg war vielleicht nicht sein gutes Abschneiden in Hall, sondern die Tatsache, dass sich etablierte PolitikerInnen über die wachsende Entfremdung mit dem Wahlvolk und neue Formen des bürgerschaftlichen Engagements Gedanken machen mussten.
PS: Üblicherweise sehen wir davon ab, auf Stil und Inhalt der Sprecherkommentare in den historischen Filmbeiträgen einzugehen. In diesem Fall wollen wir jedoch eine Ausnahme davon machen: Die offenen sprachlichen Angriffe auf Helmut Palmer können wir nur kopfschüttelnd wahrnehmen. Hier wurden offensichtlich alle Grundsätze von journalistischer Objektivität, Sachlichkeit und Neutralität über Bord geworfen.
Zum Weiterlesen und -forschen:
- Jan Knauer: Bürgerengagement und Protestpolitik. Das politische Wirken des „Remstalrebellen“ Helmut Palmer und die Resonanzen seiner Mitmenschen. Dissertation, Univ. Tübingen, 2012.
- Jan Knauer: Helmut Palmer: Der Remstal-Rebell. Darmstadt 2014.
- Helmut Palmer: Mein Kampf und Widerstand im Filbingerland, Genf 1978.
/// Am 5. März wird ein ganz Großer zu Grabe getragen.