EinwanderInnen ins Rathaus! – Nei’geschmeckte von weit her übernehmen politische Verantwortung

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15. Januar 1989 | Gerne bezeichneten sie sich als „Exoten“, die mitten in und mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft lebten, arbeiteten, liebten, lachten, stritten und sich vertrugen. Sie kamen aus Italien, Spanien, Jugoslawien, Griechenland, der Türkei, aus dem Iran; sie suchten Arbeit, Schutz vor politischer und religiöser Verfolgung, ein Leben in Würde und Freiheit. Traditionelle ArbeiterInnenviertel wie der Stuttgarter Osten wurden ab den 1960er Jahren zu einer zweiten Heimat für die EinwandererInnen. Dabei war es nicht immer leicht gewesen, wie die türkischstämmige Leyla Süngerli aus eigener Erfahrung zu berichten weiß: Ende der 1980er Jahre suchte sie mit ihrem Kind eine Sozialwohnung in Stuttgart und geriet an einen korrupten Beamten des Wohnungsamtes, der sich an der Wohnungsnot unter den EinwanderInnen systematisch bereicherte. Mutig deckte sie gemeinsam mit einem Redakteur der migrantischen „Stuttgarter Kanaken-Zeitung“ und weiteren HelferInnen diesen Missstand auf, der deutschlandweit Empörung auslöste. Nicht zuletzt diese Aktion bestärkte das Selbstbewusstsein der lokalen Migrantenszene und bildete die Grundlage für den nächsten Schritt, wie Shahla Blum anmerkte: EinwanderInnen sollten auch in der Kommunalpolitik endlich ernst genommen werden und in die Parlamente gewählt werden können.

 

Diesem Ziel verschrieb sich eine bunte Gruppe migrantischer und deutscher Aktivisten aus der Landeshauptstadt, die am 15. Januar 1989 als „Initiative EinwanderInnen ins Rathaus“ in das Licht der Öffentlichkeit trat. Rund 150 Menschen mit verschiedenen Pässen versammelten sich im „Theaterhaus“ diskutierten mit der Türkin Sevim Çelebi, der ersten Migrantin in einem deutschen Landesparlament (Westberlin). Am Ende der Veranstaltung stand eine Erklärung, die allgemein das Wahlrecht für alle in Deutschland lebende Menschen – unabhängig von Herkunft und Pass – einforderte, unter anderem für über 80.000 EinwanderInnen in Stuttgart.

Hinsichtlich der Kommunalwahlen im Herbst 1989 wollten die Aktiven konkret erreichen, dass EinwanderInnen mit deutschen Pass auf „wirklich sichere Listenplätze“ gesetzt werden, erinnert sich Harald Stingele, damals in der Wählerinitiative aktiv. Die Stuttgarter Grünen hatten beschlossen, auf die ersten 15 Plätzen ihrer Wahlliste zwei MigrantInnen mit deutschem Pass zu setzen – einige Mitglieder der Initiative „EinwanderInnen ins Rathaus“ kritisierten diese Entscheidung als „Alibi“ und zu unsicher. Letztendlich setzte die Basis der Grünen bei der endgültigen Aufstellung der Liste ein klares Signal: Initiativenmitglied Gordana Golubović wurde auf Platz 1  gewählt, Guillermo Apericio auf den zehnten und Shahla Blum auf den elften. Auch Leyla Süngerli wurde auf die Liste gesetzt.

Man wolle das „Sprachrohr der Migranten in Stuttgart“ werden, wie Shahla Blum das Ziel der Wählerinitiative zusammenfasste. Mit vielbeachteten Aktionen wie dem „Tag der deutschen Vielheit“, einem bunten Fest der Nationen im „Theaterhaus“ (Juni 1989), Umfragen unter den EinwanderInnen und Gesprächsrunden wirbelten die Mitglieder der Wahlinitiative den Wahlkampf auf und setzten gesellschaftliche Ausrufezeichen.

Der Ausgang der Kommunalwahl vom 22. Oktober 1989 – die Grünen errangen mit 12,4% der gültigen Stimmen sieben Sitze im Gemeinderat – ermöglichte Gordana Golubović und Shahla Blum die Möglichkeit, den Forderungen, Ideen und Projekten der migrantischen Bewegung in der Landeshauptstadt politisches Gewicht zu verleihen.

Nicht zuletzt der Arbeit solcher Gruppen wie der „Initiative EinwanderInnen ins Rathaus“ ist es zu verdanken, dass die kurdischstämmige Muhterem Aras heute Präsidentin des baden-württembergischen Landtags ist. Doch gibt es in Sachen Gleichberechtigung, Integration und Teilhabe von EinwanderInnen noch immer viel zu tun.


Zum Weiterlesen- und forschen:

  • Forum der Kulturen Stuttgart: Homepage.

 

„Festival just for you“ – Der Reutlinger Verein GIG für Musik statt Kommerz

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13. Dezember 1970 | Vier DM – dafür gab es 1970 am Kiosk 13 „Capri“-Eis.  Das war die finanzielle Größenordnung für 30 Rock- und Popfreunde jüngeren Semesters, die sich am 13. Dezember 1970 in Reutlingen zusammenfanden. Vier DM sollte der reguläre Ticketpreis für selbstveranstaltete Rockkonzerte sein – eine klare Kampfansage an die „Profitgeier“ des boomenden Musik- und Konzertbusiness. Die Liebe zur Livemusik für ’ne kleine Mark mündete in die Gründung des Vereins „GIG. Kultureller politischer Verein zur Förderung progressiver Kunst und Musik Reutlingen“ am 1. März 1971.

Das ambitionierte Projekt passte perfekt in die politisierte Atmosphäre jener Jahre, die von der damaligen Musikszene klangvoll und stimmgewaltig beflügelt wurde. Es waren die Jahre der wabernden Klangteppiche des Progressive Rocks beziehungsweise und dessen deutscher Entsprechung, des Krautrocks. Die Haare waren lang, die Lieder mit Spielzeiten bis zu 25 Minuten noch länger. Neben der unverzichtbaren Hammondorgel wurden weitere ungewöhnliche Instrumente bemüht, es jazzte, blueste und folkte an allen Ecken und Enden mit oftmals psychodelischen Einschlag. Viele Texte wurden politischer und manche Bands eröffneten den musikalischen Klassenkampf gegen das alte Establishment, darunter die Kölner Politrocker Floh de Cologne, Ihre Kinder aus Nürnberg oder Eylenspiegel aus dem Großraum Stuttgart.

 

GIG änderte die Spielregeln des Musikgeschäfts: Der Verein organisierte Konzerte, die sich finanziell selbst tragen konnten, aber niemanden bereichern sollten. Eine gehörige Portion Eigenleistung half beim Sparen. Den weltverändernden Idealismus hinter dem GIG-Konzept zu vermitteln, erwies sich als schwierig, wie der Musikjournalist Christoph Wagner betont. Dass einigen Jugendlichen selbst drei Mark Eintritt zu viel waren und diese sich deshalb am Mobiliar der Konzertstätten austobten, riss Löcher in die klammen Kassen des Vereins.

Dennoch gelang den GIG-Aktivisten um Horst Werb und Reinhard Kühner immer wieder, frischen Wind in die schwäbische Provinz zu bringen, beispielsweise beim Reutlinger Open Air-Pop Festival im Juli 1971 mit den Bands Swegas, Warm Dust und Kraftwerk. Relative Newcover wie Raw Material, Magma, Beggars Opera, Barclay James Harvest füllten mal mehr mal weniger die Hallen. Allerdings verstrickten sich die GIG-Leute auch immer wieder in Kleinkriege mit kommerziellen Veranstaltern sowie dem sparsamen wie anspruchsvollen Publikum. In Tübingen floppte im Mai 1972 ein Auftritt der britischen Rocker von UFO und endete in Empörung und Gewalt. Schlussendlich zog der Rockzirkus weiter und der kapitalismuskritische GIG-Verein zerbrach noch in den 1970er Jahren. Dass es heute immer mehr alternative Festivals (Stichwort „Umsonst und Draußen“) gibt, ist vielleicht ein später Erfolg der Reutlinger Antikommerz-Musikrebellen.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Christoph Wagner: Träume aus dem Untergrund. Als Beatfans, Hippies und Folksfreaks Baden-Württemberg aufmischten, Stuttgart 2017.

„Unser Mut wird langen“ – Die Protestaktionen gegen die Raketenbasis in Mutlangen

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10. Dezember 1983 | „Das weiche Wasser bricht den Stein“ war ein Motto der Friedensbewegung der 1980er Jahre. Ab dem Herbst 1983 begann der stete Tropfen des Protests gegen atomare Rüstung und die drohende Vernichtung der Menschheit nahe des Ortes Mutlangen auf der schwäbischen Ostalb hörbar zu werden. Bereits seit 1964 hatte die US-Army dort ihre Mittelstreckenraketen Pershing IA stationiert, wogegen Mitglieder des örtlichen Gemeinderats im Jahre 1969 ihre Stimme erhoben  hatten – wie David gegen Goliath. Die Proteste hielten sich damals allerdings in Grenzen, nicht zuletzt, weil die US-Truppen ein wichtiger Arbeitgeber für die Region waren. Doch je länger sich die Atommächte USA und Sowjetunion in der Logik einer atomaren Abschreckung verstrickten, desto höher wuchsen die Raketenberge, desto schneller wurden Rufe der „Nachrüstung“ laut, da doch der gegnerische Machtblock einen eventuellen militärischen Vorteil erlangt habe.

 

Im Jahre 1979 verkündete die NATO ihren „Doppelbeschluss“:  Verhandlungen mit den Warschauer Vertragsstaaten sollten zunächst über Rüstungskontrolle und den Abbau von atomaren Mittelstreckenraketen (Pershing II im Westen, SS 20 im Osten) geführt werden – bei einem Misserfolg sollten neue Raketen stationiert werden. Die angesetzten Gespräche der Machtblöcke zeitigten keine Erfolge und tröpfelten dahin. Zeitgleich begann in Mutlangen und Umgebung, direkt neben den Mittelstreckenraketen, das weiche Wasser zu fließen. Ab 1980 gründeten sich mehrere Friedeninitiativen, darunter die „Bürger gegen den Atomtod“ sowie die „Christliche Arbeitsgemeinschaft Frieden“ (CAF). Mit ihrem betont bürgerlichen Auftreten wollte die ökumenische Gruppe zeigen, „dass nicht nur ‚Chaoten‘ gegen die Raketen sind“, wie sich die Mitbegründerin Lotte Rodi erinnert. Befürchtungen, dass auch in Mutlangen die Proteste zu Gewalt führen könnten (wie die Proteste gegen das geplante Kernkraftwerk in Wyhl), wurden immer wieder geäußert. Dass die jahrelangen Mutlangener Proteste (bis auf wenige Ausnahmen) friedlich blieben, ist ein Markenzeichen der Bürger- und Friedensbewegung vor Ort geworden. So blockierten anlässlich des Antikriegstags am 1. September 1983 mehrere hundert Menschen sowie zahlreiche Prominente drei Tage lang die Tore des US-Airfields, unter ihnen auch die Schriftsteller Heinrich Böll und Günter Grass sowie namhafte PolitikerInnen wie Erhard Eppler (SPD) und die Grünen-Aktivistin Petra Kelly. Mutlangen war schlagartig bekannt geworden.

Nachdem der Bundestag am 22. November dem Nato-Doppelbeschluss zugestimmt hatte, rollten die ersten Pershing II-Raketen in Mutlangen an, woraufhin es am 10. Dezember 1983 erneut zu einer symbolischen Besetzung mit rund 10.000 Teilnehmenden kam. Sind Sitzblockaden Gewalt und strafrechtlich zu ahnden? Um diese Frage entbrannte vor den Gerichten im Südwesten ein heftiger juristischer Streit: Rund 3.000 vorläufige Festnahmen und zahlreiche verhängte Geldstrafen zwischen 1983 und 1987 illustrieren die Bedeutung der Auseinandersetzung. Sogar Richter beteiligten sich medienwirksam an den Blockaden (so geschehen am 12. Januar 1987). Das Konzept des zivilen Ungehorsams war zu einem generationen- und schichtenübergreifenden Phänomen geworden.

Nicht ohne Spannungen sei das Verhältnis zwischen den bürgerlichen Aktiven des CAF und den autonomen Bewohnern der „Pressehütte“ gewesen, die sich als AnsprechpartnerInnen der Medien und Koordinatoren betätigten, erinnert sich der Aktivist Wolfgang Schlupp. Teile der Mutlangener Bevölkerung beschwerten sich über die „Dauer-Demonstranten“ (BILD, 05.02.1984) und waren zugleich von den mutigen SeniorInnen beeindruckt, die sich ab 1986 regelmäßig zu Aktionen trafen und von der Polizei fortgetragen wurden.

Erst die sich entspannende Weltlage bewirkten Anfang der 1990er-Jahre den Abzug der Pershing II-Raketen aus Mutlangen.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Manfred Laduch/Heino Schütte/Reinhard Wagenblast: Mutlanger Heide. Ein Ort macht Geschichte, Schwäbisch Gmünd 1990.
  • Friedens- und Begegnungsstätte Mutlangen e.V. (Hg.): Mutlanger Erfahrungen. Erinnerungen und Perspektiven (= Mutlanger Text, Nr. 13), Mutlangen 1994.
  • Reinhold Weber: Mutlangen – mit zivilem Ungehorsam gegen Atomraketen, in: ders. (Hg.) Aufbruch, Protest und Provokation. Die bewegten 70er- und 80er-Jahre in Baden-Württemberg, Darmstadt 2013, S. 141-164.
  • Lebenshaus Schwäbisch Alb: Sammlung von Texten, Dokumenten, Rückblicken damaliger Mutlanger FriedensaktivistInnen.

Auf dem Königsweg – Die Verfassung für Württemberg von 1819

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25. September 1819 | Der Weg ist das Ziel. Diese alte Weisheit gilt auch für die Württembergische Verfassung von 1819.

Des Volkes Stimme | Auf dem Königsweg – die Verfassung für Württemberg von 1819

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Ja, die Verfassung für das Königreich Württemberg war beachtlich und in vielen Punkten weitsichtig und fortschrittlich. Aber ihre Entstehung ist die vielleicht noch bemerkenswerte Geschichte. Württemberg bekam mit seiner Verfassung kein „Gnadengeschenk“ von einem wohlmeinenden Fürsten, wie es in Baden und den anderen wenigen deutschen Verfassungsstaaten Praxis war. Im Königreich wurde stattdessen ein regelrechter Verfassungsvertrag zwischen dem Monarchen und den Vertretern des Volkes abgeschlossen. Mitnichten waren Wilhelm I. und sein Vorgänger Friedrich I. Anhänger des Gedankens der Volkssouveränität: Sie sahen sich als allein durch göttlichen Willen eingesetzte und legitimierte Herrscher. Die Vereinbarung war das Ergebnis einer tief verwurzelten württembergischen Tradition: das Recht auf Teilhabe. Die uralte Grundlage dafür war der von Herzog Ulrich mit den Landständen am 8. Juli 1514 abgeschlossene Tübinger Vertrag. Darin hatten sich die Landstände das Recht auf Zustimmung in Steuerfragen und bei der Landesverteidigung gesichert.

Wie mächtig diese Tradition war, hatte Friedrich I. deutlich vor Augen geführt bekommen. In seinem absoluten Machtanspruch hatte der angehende König Ende 1805 die seitherige landständische Verfassung für Altwürttemberg aufgehoben und die Landstände aufgelöst. Aber das Ende der Herrschaft Napoleons veränderte natürlich auch die Machtposition seines seitherigen Verbündeten. Friedrich I. versuchte die eigene Stellung durch eine neue Verfassung abzusichern. Für den 15. März 1815 berief er eine Ständeversammlung ein, die die Verfassung annehmen sollte. Neben Vertretern des Adels, der Kirchen und der Universitäten saßen darin die Vertreter der 65 Oberämter und der sieben wichtigsten Städte – gewählt von allen Männern, die aus Liegenschaften ein jährliches Einkommen von 200 Gulden nachweisen konnten.

Wenn Friedrich I. gedacht hatte, sein überraschend großzügiger Entwurf würde leicht Zustimmung finden, sah er sich getäuscht: Die Versammlung forderte stattdessen die weitgehende Wiederherstellung der altwürttembergischen Verfassung. Was folgte, war ein auf Biegen und Brechen geführter Kampf um die Verfassung. Auch der 1816 auf den Thron nachfolgende Wilhelm I. scheiterte zunächst an der Spaltung des Landes in die beharrenden Altwürttemberger auf der einen Seite und die für die neue Verfassung aufgeschlossenen Neuwürttemberger auf der anderen Seite. Erst 1819 gelang der Durchbruch, als eine neu gewählte verfassunggebende Versammlung unter dem zunehmenden Druck der äußeren Verhältnisse entschlossen nach einem Ausweg suchte.

Das kaum noch für möglich gehaltene Happy End fand am 25. September 1819 im Ordenssaal des Ludwigsburger Schlosses statt. Der Monarch und die Ständeversammlung tauschten gehaltvolle Urkunden miteinander aus – Württemberg hatte einen neuen Vertrag.

 

Südwestliche (Un)entschiedenheit – Eine Volksbefragung und ein Quiz

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24. September 1950 | Voller Selbstlob kommentierte der Mitherausgeber der „Stuttgarter Zeitung“, Erich Schairer, die Volksbefragung über die Einrichtung eines Südweststaats: Die Presse habe sich zur Sachwalterin des öffentlichen Interesses gemacht, als zeitgleich in 83 badischen und württembergischen Zeitungen am 15. Februar 1950 der Aufruf „Das Volk soll sprechen“ abgedruckt wurde. Die Meinung der Bevölkerung in den Ländern Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern sollte festgestellt und von den politisch Verantwortlichen endlich umgesetzt werden. Ganz grundlos schwoll dem Pressevertreter nicht die Brust, denn immerhin fiel die Forderung nach einer Volksbefragung auf fruchtbaren Boden. Der politische Acker war bestellt, auf dem die beiden verfeindeten Lager in den kommenden Monaten emsig Propagandablüten säten.

Kleine Pause, Zeit zum Spielen! Unser Quiz hält knifflige Fragen für Sie bereit – wie gut kennen Sie sich aus mit der Partizipation im Südwesten? Los gehts!

Auf der einen Seite ackerten die „Altbadener“ für den Erhalt der badischen Eigenständigkeit. Ihren stärksten Fürsprecher fanden sie in Staatspräsident Leo Wohleb. Auf Plakaten wurde vor dem geplanten Südweststaat als „Schwabenstreich“ gewarnt, und auf Großkundgebungen wie in Konstanz (20. Juni 1950) stießen die Altbadener heftig mit ihren Gegnern zusammen. Was besonders in Südbaden zu einer regelrechten Glaubensfrage geriet, wurde auf württembergischer Seite deutlich weniger emotional gesehen. So klagte der stellvertretende Innenminister von Württemberg-Hohenzollern, Theodor Eschenburg: „Was uns ärgert, ist, dass wir keine Gegner haben!“ Mit „wir“ meinte er die Fürsprecher des Südweststaates, die sich in der „Arbeitsgemeinschaft für die Vereinigung Baden-Württemberg“ sammelten. Der Journalist Edwin Konnerth musste wenige Tage vor der Volksbefragung festhalten, dass der „Mann der Straße“ (außerhalb Südbadens) viel mehr mit Alltagsdingen denn mit staatsrechtlichen Fragen beschäftigt sei. Und wenn man auf das Politische zu sprechen komme, rangieren die Südwest-„Plänkeleien“ weit hinter der Frage einer möglichen Wiederaufrüstung der BRD und dem Krieg in Korea.

So viel schwäbische Gelassenheit rief Mahner wie Gebhard Müller, den damaligen Staatspräsidenten von Württemberg-Hohenzollern, auf den Plan. In einer Rede warnte er davor, dass eine geringe Wahlbeteiligung nicht nur den Altbadenern in die Hände spiele, sondern auch den Kommunisten, die gegen einen funktionierenden Südweststaat als „Beitrag zur Genesung, zum Wiederaufstieg und zur Stärkung des antibolschewistischen Deutschlands“ agitierten. So sprach sich beispielsweise die KPD Südbaden prinzipiell für den Erhalt der alten Länder aus, doch sah sie in der Befragung lediglich ein Ablenkungsmanöver von den übergeordneten Zeitfragen wie einer möglichen deutschen Wiedervereinigung. Gegen deren Protestaktionen mit eigenen Stimmzetteln ging das badische Innenministerium entschieden vor.

 

Am Montag nach der Volksbefragung waren weder die Südweststaat- noch die Altländer-Befürworter in Feierlaune. Zwar sprachen sich rund 1,5 Millionen Abstimmende für den Südweststaat aus, zugleich plädierten rund 634.000 gegen die Vereinigung, hauptsächlich im Abstimmungsbezirk Südbaden (rund 317.000 Stimmen). Rein rechnerisch ergab sich damit für das alte Land Baden eine Mehrheit von 5.000 Stimmen gegen die Vereinigung. Die Diskussionen um Heimat, die laut Gebhard Müller tiefer reichten als „ein Zufallsstaat von Napoleons Gnaden“ – gemeint war die territoriale Neuordnung Badens durch Napoleon ab 1803 – zogen sich noch Jahrzehnte.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Leo BW: Der Weg zum Südweststaat.
  • Landtag Baden-Württemberg/Hauptstaatsarchiv Stuttgart (Hrsg.): Die Entstehung des Bundeslandes Baden-Württemberg. Eine Dokumentation, bearb. von Paul Sauer, Ulm 1977.

Ein neuer Geist blüht – Die Naturfreunde Württemberg denken Mensch und Umwelt zusammen

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11. September 1948 | Es sieht so aus, als ob uns und unseren Planeten nur noch SchülerInnen retten können, die am Freitag statt in die Schule auf die Straße gehen. Die Umweltbewegung „Fridays for Future“ ist auch im Südwesten unterwegs, um die Erwachsenen zum echten Umdenken in Sachen Klimaschutz zu bewegen. Vor über 100 Jahren war der Klimawandel noch kein Thema, vielmehr gab es (junge) Menschen, die aktiv an einem Bewusstseinswandel arbeiteten. Die Wurzeln der Naturfreundebewegung liegen in der österreichischen Arbeiterbewegung, aus deren Reihen im Jahre 1895 die erste Ortsgruppe in Wien hervorging. Der Kampf um eine klassenlose Gesellschaft sollte mit der Suche nach den Schönheiten der Natur einhergehen: Erste Formen eines „grünen Tourismus“ wurden ausprobiert, es wurde gewandert und internationale Kontakte gepflegt.

Bereits im Jahre 1907 gründeten die „grünen Roten“ im südbadischen Konstanz die erste Ortsgruppe im Südwesten – die WürttembergerInnen zogen mit der Stuttgarter Ortsgruppe im Jahr 1910 nach. Parallel zur Waldheimbewegung, die ArbeiterInnen gesunde Freizeit- und Versammlungsorte im Grünen schaffen wollte, richteten die Naturfreunde bald ihre eigenen Wander- und Ferienheime ein, in denen Stadtkinder vom rauen Alltag abschalten konnten.

 

Die Naturfreunde waren keine weltfremden Blümchensammler, sondern verbanden ihre Liebe zur Natur mit einer klaren politischen Haltung: Nur in einer sozialistischen Gesellschaft könne die Trennung zwischen Stadt und Land aufgehoben werden und die Ausbeutung von Mensch und Natur endgültig beendet werden. Wenig verwunderlich, dass die Naturfreundebewegung durch das NS-Regime verboten wurde und sich Mitglieder dem aktiven Widerstand anschlossen (beispielsweise die Stuttgarterin Liselotte Hermann). Nach Jahren der Verfolgung wurden die Naturfreunde Württemberg am 24. März 1946 wiedergegründet.

„Lasst nicht verzagend die Zeit verrinnen, wir wollen wagend Neues beginnen“, lautete das Motto des ersten Jugendtags der Naturfreunde Württemberg am 11. und 12. September 1948 in Esslingen. Es sollte ein begeistertes Symbol werden, wie die Jugend sich vom Erbe der nationalsozialischen Erziehung mit ihrem Rassenhass und Kriegsdrill lossagte. Der Landesjugendleiter Karl Pfizenmaier fand eindringliche Worte:

„Die Opfer und Leiden, die der Faschismus gefordert hat, dürfen nicht umsonst gewesen sein. Ein neuer Geist, eine neue menschliche Haltung müsse werden (…). Grenzsteine können und dürfen keine Hemmsteine zur friedlichen und sozialen Entwicklung Europas und der Welt sein, soll die menschliche Gesellschaft nicht untergehen.“

Dass die Jugendlichen auf dem Esslinger Marktplatz sangen, tanzten und  fröhlich beisammen waren, erstaunte in Zeiten von allgemeiner Not und Währungsreform einige ältere Semester.

In den kommenden Jahrzehnten blieben die Naturfreunde ihren Idealen treu, engagierten sich gegen Flächenfraß und Großprojekte wie Stuttgart 21, in der Friedensbewegung und für eine weltoffene Gesellschaft, die Menschen miteinander und mit ihrer Umwelt in Einklang bringt.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • NaturFreunde Württemberg: Homepage.
  • NaturFreunde Baden: Homepage.
  • Touristenverein „Die Naturfreunde“, Bund für Touristik und Kultur, Landesverband Württemberg: Von der Idee zur Tat. Aus der Geschichte der Naturfreundebewegung, Heilbronn 1970.

Mehr als Schall und Rauch – Emil Molt und die Gründung der ersten Waldorfschule

Ein Kommentar

7. September 1919 | Seine Zigaretten gingen in Rauch auf, an den Namen seines Unternehmens Waldorf-Astoria erinnert lediglich eine Luxushotelkette aus New York. Dieser Flüchtigkeit zum Trotz hat der 1876 in Schwäbisch Gmünd geborene Unternehmer Emil Molt seiner Nachwelt etwas Bleibendes hinterlassen, das überhaupt nichts mit Glimmstängeln zu tun hat. Doch im Tabak lagen die Wurzeln: Seit 1906 leitete Molt erfolgreich seine Zigarettenfabrik, die ihren Hauptstandort noch vor Beginn des Ersten Weltkriegs nach Stuttgart verlagerte. Zeitgleich setzte sich der aufstrebende Fabrikant das Ziel, den bei ihm Beschäftigten die Nutzung sozialer Angebote wie Erholungsheime zu ermöglichen. Auch der erste Betriebsrat Württembergs wurde unter seiner Führung in den Waldorf-Astoria-Werken gegründet.

 

Im Jahre 1907 schlossen Emil Molt und seine Ehefrau Berta eine prägende Freundschaft mit dem Anthroposophen Rudolf Steiner – ein „Wendepunkt“ in seinem Leben, wie Molt später in seiner Autobiografie anmerkte. In den bewegten ersten Monaten der Weimarer Republik bemühte sich Molt, den Ideen Steiners eine Stuttgarter Bleibe zu verschaffen. Für die Kinder der ArbeiterInnen seiner Fabrik in Stuttgart-Ost wurde ein ehemaliges Ausflugslokal auf der luftigen Uhlandshöhe zur ersten Waldorfschule der Welt umgewandelt. Am 7. September 1919 wurde die Eröffnung gefeiert. Das Schulkonzept hielt einige überraschende Neuerungen parat: So wurden die rund 250 ABC-SchützInnen nicht wie gewohnt nach Geschlechtern getrennt, sondern gemeinsam unterrichtet. Die Aufnahme von Kenntnissen und Wissen sollte praktisch, in Einheit von Geist und Körper erfolgen. Aus diesem Grunde nahmen Handarbeitskurse, die Arbeit im Schulgarten oder die Beschäftigung mit Ausdruckstanz und Gymnastik einen gewichtigen Teil des Lehrplans ein. Noten? – Fehlanzeige!

Die Wirtschaftskrise von 1929 trieb zahlreiche ArbeiterInnen in die Arbeitslosigkeit und Emil Molt musste sein Unternehmen an die Konkurrenz verkaufen. Seiner Waldorfschule blieb er bis zu seinem Tode im Jahre 1936 mit großem persönlichem wie finanziellem Engagement treu.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Kai Simone Nellinger/Miriam Weigelt: Emil Molt, 1876 – 1936. Fabrikant und Schulgründer [Denkblatt der Stiftung Geißstraße 7, hg. von Michael Kienzle/Dirk Mende], Stuttgart 2005.
  • Emil Molt: Entwurf meiner Lebensbeschreibung, Stuttgart 1972.
  • Dietrich Esterl: Emil Molt, 1876 – 1936. Tun, was gefordert ist, Stuttgart 2012.

Geschichte wird bewahrt – Das „Hotel Silber“ wird Lern- und Gedenkort

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3. September 1979 | Der alltägliche Terror gegen Andersdenkende, die Überwachung und die Kontrolle der württembergischen Bevölkerung hatten zwischen 1933 und 1945 eine Adresse: das ehemalige „Hotel Silber“ in der Stuttgarter Dorotheenstraße. Das seit 1928 als Polizeipräsidium genutzte Gebäude war seit 1933 der alleinige Sitz der Politischen Polizei, die 1936 in Geheime Staatspolizei umbenannt wurde. Nach dem Krieg kehrte das Polizeipräsidium zurück, später zog die Kriminalpolizei ein, bis 1985 das Innenministerium das Gebäude übernahm.

 

Die NS-Geschichte des Ortes geriet in der Nachkriegszeit zunehmend in Vergessenheit. Aber nicht ganz: 40 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs veranstalteten die Jungsozialisten (Jusos) Stuttgart gemeinsam mit der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten“ (VVN-BdA) eine Aktionswoche vom 3. bis 14. September 1979. Vor dem „Hotel Silber“ forderten die Aktivisten die Einrichtung einer „Gedenkstätte für die Opfer des Faschismus in Stuttgart“. Doch erst auf das nachdrückliche Betreiben einiger StuttgarterInnen um den Widerstandskämpfer Hans Gasparitsch wurde 1988 im Eingangsbereich des „Hotel Silber“ eine Gedenktafel angebracht.

Als im Jahre 2008 Pläne öffentlich wurden, das Gebäude abreißen zu lassen, regte sich Protest. Die „Initiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber e.V.“ gründete sich 2009 mit dem Ziel, den Abriss zu verhindern. 2011 beschloss  die neue grün-rote Landesregierung den Erhalt des „Hotel Silber“. An dem einstigen Ort des NS-Terrors entstand als Bürgerbeteiligungsprojekt ein Ort des historisch-politischen Lernens und der Begegnung. Konzept und Inhalt hat das Haus der Geschichte Baden-Württemberg gemeinsam mit der „Initiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber e.V.“ erarbeitet. Die am 3. Dezember 2018 eröffnete Dauerausstellung beschäftigt sich mit Tätern, Täterinnen und den Opfern, mit der Institution Polizei und ihrer Rolle in drei politischen Systemen. Sie zeigt Kontinuitäten und Brüche in ihrem Umgang mit Minderheiten und in der Strafverfolgung, aber auch das Selbstverständnis der Polizisten in Demokratie und Diktatur.

Besonders junge Menschen können sich im Rahmen von Workshops die verschiedenen Facetten von Verfolgung und Verbrechen im Nationalsozialismus erschließen. Gedenken soll im „Hotel Silber“ kein theoretisches Thema bleiben, sondern praktisch gelebt und erlebt werden.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Haus der Geschichte Baden-Württemberg (Hrsg.): Hotel Silber. Eine Dauerausstellung zu Polizei und Verfolgung, Stuttgart 2021.
  • Haus der Geschichte Baden-Württemberg: Gedenk- und Lernort Hotel Silber.
  • Haus der Geschichte Baden-Württemberg: Virtueller Gedenkort Hotel Silber.
  • Susanne Wein: Alles erforscht? Nationalsozialismus in Württemberg und Hohenzollern: Literaturbericht und Bibliografie, Norderstedt 2013.

Schöner wohnen – Mannheims Gartenstadt bringt Natur an die Quadrate

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26. August 1910 | „Schaffe, schaffe, Häusle baue“ – dieses Lebensmotto ist so aktuell wie selten. Viele Städte in Baden-Württemberg platzen aus allen Nähten. Mit welchen Konzepten gleichermaßen effizient, kostengünstig, sozial und ökologisch gebaut werden kann, wird heiß diskutiert. Ein Blick zurück könnte dabei helfen.

Gruppenbild von der Baustelle der sogenannten Waldpforte in der Gartenstadt Mannheim, aufgenommen im Jahre 1912 (Bildnachweis: Marchivum, Bildsammlung, KF042791; Einfärbungen: HdGBW/Hemberger).

Zu Beginn des 20. Jahrhundert boomte die Quadratestadt Mannheim. Der Zuzug von ArbeiterInnen aus dem Umland machte die Wohnsituation immer brenzliger: Die hygienischen Umstände waren schlecht, kinderreiche Familien mussten in Einzimmerwohnungen ausharren und es mangelte an frischer Luft und Licht. Zeitgleich breitete sich im Deutschen Reich eine neue Idee aus, wie die Stadt der Zukunft aussehen könnte: die Gartenstadt. Ziel waren aufgelockerte und von Grün durchzogene Siedlungen, die durch eine Genossenschaft errichtet werden sollten. Durch Kleingärten sollte die Möglichkeit zur teilweisen Selbstversorgung geschaffen werden.  Auch das allgemeine Zusammengehörigkeitsgefühl sollte gestärkt und ein kulturelles Angebot bereitgehalten werden.

In Mannheim wurde die „Gartenvorstadt-Genossenschaft“ am 26. August 1910 ins Leben gerufen. In ihrer Satzung gab sich die Genossenschaft programmatisch: „Eine Gartenstadt als eine planmäßig gestaltete Siedlung auf wohlfeilen Gelände, das dauernd im Obereigentum der Gemeinschaft erhalten wird, derart, dass jede Spekulation mit dem Grund und Boden dauernd unmöglich ist (…).“ Die Architekten Arno Anke und Hermann Esch zeichneten die Pläne und bis 1914 konnten bereits 174 Familien ihre Wohnungen vor den Toren Mannheims beziehen. Zahlreiche bekannte Mannheimer Größen dieser Zeit gehörten dem Vorstand der Genossenschaft an, so beispielsweise der SPD-Reichstagsabgeordnete Ludwig Frank oder Elisabeth Altmann-Gottheiner, die erste Dozentin an einer deutschen Hochschule.

Die Idee der Gartenstadt fand an verschiedenen Orten Nachahmer, so in Karlsruhe, Stuttgart, Freiburg, Tübingen und Rastatt.

Noch heute ist die Mannheimer Gartenstadt ein äußerst beliebtes Wohnviertel, dass mit einem eignen Bürgerverein die sozialen Gründungsideale der Gartenstadtbewegung mit Leben füllt.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Walter Pahl: Die Gartenstadt. Vision und Wirklichkeit am Beispiel der Gartenstädte Dresden-Hellerau und Mannheim (= LTA-Forschung 36/2000), Mannheim 2000.
  • Stadt Mannheim: Stadtpunkte. Eintrag zur Gartenstadt.
  • Anna-Maria Lindemann: Mannheim im Kaiserreich (= Sonderveröffentlichung des Stadtarchivs Mannheim, Bd. 15), Mannheim 1986, S. 115-117.

Ein Grund zum Feiern – Baden begeht den 25. Geburtstag seiner Verfassung

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22. August 1843 | Das ansonsten so beschauliche Örtchen Griesbach im mittleren Schwarzwald erlebte an jenem 22. August des Jahres 1843 einen regelrechten Massenansturm: Feierwillige aus dem Umland strömten an den Ort, wo Großherzog Karl im Jahr 1818 die erste Verfassung Badens unterschrieben hatte. Festschmuck zierte den Ort, Bürgergarden marschierten auf und eine Festausgabe der Verfassungsurkunde wurde unter das Volke gebracht, wobei besonders die Jugend mit dem Sonderdruck bedacht wurde, wie die „Freiburger Zeitung“ berichtete. Auch in anderen Dörfern und Städten Badens ein ähnliches Bild: Salutschüsse donnerten, Feuerwerk leuchtete auf, in Gasthäusern wurde gefeiert und auf den zentralen Plätzen erschallten Lobreden auf die Verfassung.

Bereits im Vorfeld hatte die „Mannheimer Abendzeitung“ (MAZ) die Überzeugung des liberalen Bürgertums klar zum Ausdruck gebracht: „Das Verfassungsfest ist deshalb auch ein Fest aller Bürger, d.h. des badischen Volkes.“ (MAZ, 19. August 1843). Bereits Monate vor dem Festdatum hatten sich landesweit Bürgerkomitees gegründet, in denen bekannte Liberale mitarbeiteten. Ursprünglich hatte die badische Regierung nicht beabsichtigt, eigene Feiern abzuhalten. Doch um das Jubiläum nicht ganz der liberalen Opposition anheimfallen zu lassen, wies sie die Beamten an, sich in die Festplanungen einzuklinken.

 

Ein wiederkehrendes Thema in den gehaltenen Jubelreden war der innige Appell an die Bürger, die Verfassung nicht zu „toten Buchstaben“ werden zu lassen (MAZ, 22.08.1843). So forderte beispielsweise der liberale Abgeordnete und Journalist Karl Mathy auf dem Verfassungsfest in Schwetzingen: „(…) wir wollen vorwärts schreiten zu freien würdigen Zuständen auf der Bahn der Verfassung, und darum ist es nothwendig, daß die Bürger ihre Rechte kennen lernen und ausüben.“

Denn die badischen Liberalen wussten, dass es bei der Umsetzung der Verfassungsprivilegien in handfeste Gesetze immer wieder zu Ungereimtheiten kam – als Beispiel führte Mathy die Presse- und Redefreiheit an, die zwar prinzipiell gegeben war, sich praktisch jedoch nichts an der Zensur geändert hatte. Die „Mannheimer Abendzeitung“ witterte folgerichtig auch Eingriffe in die Rede Jakob Heuß‘ in Eberbach am Neckar und prangerte diese an (MAZ, 29.08.1843). Ein weiteres vergiftetes Lob brachte das Blatt aus dem Mittelrheinkreis: „Mit besonderem Vergnügen“ habe man aufgenommen, dass die dort lebenden Menschen jüdischen Glaubens intensiv an den Verfassungsfeiern teilgenommen hätten; zeitgleich bedauerten sie zu Recht, dass sie nicht dieselben Staatsbürgerrechte wie ihre christlichen Mitbürger genössen (MAZ, 24.08.1843).

Ausgerechnet der in den Feierlichkeiten zum Ausdruck gebrachte Verfassungspatriotismus wurde einer der Impulse für den Weg zur Revolution von 1848/49. Die wachsende Unzufriedenheit über die Diskrepanz zwischen den Verfassungsversprechen und der nüchternen Realität brachte die Bürger fünf Jahre später erneut auf die Straße – diesmal jedoch ohne Feierstimmung.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Götz Distelrath: Eine Feier für das „Palladium gesetzlicher Freiheit“. Das Verfassungsfest vom 22. August 1843 in Freiburg, in: Archivnachrichten 43 (2011), S. 50-57 [online].
  • Karl Mathy (Hg.): Die Verfassungsfeier in Baden am 22. August 1843 (= Vaterländische Hefte über innere Angelegenheiten für das Volk, Bd. 2), Mannheim 1843 [Sammlung verschiedener Reden u.a., online].
  • Paul Nolte: Die badischen Verfassungsfeste im Vormärz. Liberalismus, verfassungskultur und soziale Ordnung in den Gemeinden, in: Manfred Hettling/Paul Nolte (Hgg.): Bürgerliche feste. Symbolische Formen politischen Handelns im 19. Jahrhundert, Göttingen 1993, S. 63-95.
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