18. Februar 1975 | Viele Menschen im südbadischen Wyhl am Rhein und in Marckolsheim im Elsass waren Mitte der 1970er Jahren überzeugt: Vor Ort stellt sich die Frage nach „Pest oder Cholera“ schon nicht mehr. Ihre Behörden und Regierungen hatten sich einfach für beides entschieden. Im September 1974 startete ein Münchner Chemiekonzern in Marckolsheim mit dem Bau eines Bleichemiewerks. Allerdings wurde der Bauplatz umgehend von Umweltbewegten links und rechts des Rheins besetzt, die unter anderem ein „Freundschaftshaus“ einrichteten und den Protest am Laufen hielten.
Am 17. Februar 1975 rollten in Wyhl die Baumaschinen an, um mit dem Bau eines Kernkraftwerks zu beginnen. Diese (und andere) müssten gebaut werden, sonst gingen noch vor 1980 die Lichter aus, wie der baden-württem-bergische Ministerpräsident Hans Karl Filbinger eindringlich warnte. Zunächst gingen jedoch die Motoren der Maschinen aus, nachdem hauptsächlich Hausfrauen sich am 18. Februar wütend den Bauarbeitern entgegengestellt hatten. Der weiblichen Avantgarde folgten die Männer: Gerd Auer erinnert sich als Zeitzeuge, wie Aktivisten sich an einen Kran klammerten und diesen letztendlich Schachmatt setzten. Zelte wurden aufgestellt, es wurde gekocht, diskutiert. Die angerückte Polizei beschränkte sich auf das Fotografieren der Besetzenden sowie auf das Ausstellen von hohen Geldstrafen. Während am Folgetag lokale CDU-Politiker wie Hermann Person noch den Dialog suchten, erregte Filbinger mit seiner These, dass die Proteste in Wyhl von bundesweit organisierten Extremisten gesteuert werden würden, massiven Unmut. Sogar einzelne Ortsverbände der CDU warfen dem Landeschef Kurzsichtigkeit vor. Auf Protestschildern tauchte immer häufiger eine Klarstellung der eher konservativ-wählenden Bevölkerung um Wyhl auf: „Ihr Stuttgarter Herre, gän blo acht, daß ihr üs Kaiserstühler keini Radikali macht!“
Am 20. Februar wurden die 150 Besetzenden gewaltsam mit Wasserwerfern von der Baustelle vertrieben. Männer hätten geweint, erinnert sich Annemarie Sacherer an die Ausnahmesituation. Doch der Kampfgeist war damit nicht gebrochen. Zahlreiche Bürger- und Umweltinitiativen blieben standhaft, das Gelände wurde erneut besetzt und mit umweltpolitischen Leben erfüllt. Zeitzeuge Walter Mossmann warnt allerdings davor, den Protest zu harmonisch zu zeichnen und die internen Spannungen nachträglich zu verwischen. In manchen Punkten habe Einigkeit bestanden, jedoch keine Einheitlichkeit. Erfolgreich waren sie, die CDU-Mitglieder und Linken, die Winzer und Hausfrauen, die Umweltschützenden und Schöpfungsbewahrer, am Ende doch. 1977 wurde der Bau eingestellt und Wyhl trat die Karriere als Mythos und Ikone der Umweltbewegung an.
Ach ja, die Lichter gingen nicht aus.
Zum Weiterlesen und -forschen:
- Archiv der Badisch-Elsässischen Bürgerinitiativen: Wyhl.
- Mitwelt.de: Umfassende Dokumentation zu Wyhl, bspw. zu den Protestplakaten jener Jahre.
- Hanno Hurth/Gerhard A. Auer (Hg.): Siebenunddreißig Wyhl-Geschichten, Emmendingen 2014.
- Bernd Nössler/Margret de Witt (Hg.): Wyhl. Kein Kernkraftwerk in Wyhl und auch sonst nirgends. Betroffene Bürger berichten, Freiburg 1976.
- Nina Gladitz (Hg.): Lieber aktiv als radioaktiv. Wyhler Bauern erzählen. Warum Kernkraftwerke schädlich sind. Wie man eine Bürgerinitiative macht und sich dabei verändert, Berlin 1976.
- Manfred Richter: Bürger, helft Euch selbst. Wyhl – ein Beispiel. Ein Fotodokument, Reinach 2015.
/// Eine Stimme haben, auch in einer anderen Sprache: Am 20. Februar decken wir das nächste Kalenderblatt auf.
10 Antworten auf „Nai hämmer g’sait – das AKW-Baugeländes Wyhl wird besetzt“