Gemeinsam mehr haben – Das genossenschaftliche Prinzip erobert den Südwesten

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21. August 1864 | Ein Sprichwort besagt: Bei Geld hört die Freundschaft auf. Doch nehmen wir einmal an, dass bei Geld die Freundschaft anfängt (gekaufte Freundschaften und Likes diverser Internetsternchen auf der Plattform mit dem blauen F vernachlässigen wir an dieser Stelle). Das 19. Jahrhundert war für weite Teile der Bevölkerung in Baden, Württemberg und Hohenzollern von Mangel geprägt. Große finanzielle Sprünge konnten sich weder arme Bauernfamilien im Hohenlohe noch jene Menschen erlauben, die in den neuen Fabriken im Rhein-Neckar-Gebiet malochten. So scharf sich die soziale Frage stellte, so vielzählig waren die vorgeschlagenen Lösungen: Diese reichten von der christlichen Fabrikkommune Gustav Werners bis zur Gründung von Arbeiterorganisationen wie dem Mannheimer Arbeiter-Bildungs-Verein im Jahre 1861. Einen weiteren sehr erfolgreichen Gedanken verfolgte der Sozialreformer Hermann Schulze-Delitzsch. Im Jahre 1858 schrieb er:

Endlich aber müssen alle Bestrebungen zum Wohl der arbeitenden Klassen auf die innere sittliche und wirthschaftliche Stärkung derselben, auf die Erweckung und Hebung der eignen Kraft, auf die Selbsthilfe der Betheiligten gegründet sein (…).“ (Schulze-Delitzsch, Die arbeitenden Klassen und das Associationswesen in Deutschland (…), S. 108)

 

Auf staatliche Sparkassen mit wohltätigen Anspruch war der Genossenschaftler nicht gut zu sprechen: Institutionen wie die 1818 auf Betreiben der württembergischen Königin Katharina geschaffene Landessparkasse waren in seinen Augen zu eng mit dem Obrigkeitsstaat verbandelt und würden die Eigeninitiative des einfachen Volkes lähmen.

Eine Alternative lag nahe: Gleichberechtige Mitglieder (Genossen) sollten durch gemeinschaftliches Sparen einen Kapitalstock aufbauen, aus dem Geld zu günstigen Konditionen geliehen werden konnte. Dieses Konzept des finanziellen Empowerments nahm mit der Gründung der „Öhringer Privatspar- und Leihkasse“ am 27. August 1843 konkret Gestalt an. Es handelt sich dabei um die erste genossenschaftliche Bank Deutschlands – gegründet, noch bevor Schulze-Delitzsch seinen ersten „Vorschussverein“ (später: Volksbank) im Jahre 1850 aus der Taufe hob.

Im Bürgermuseum Stuttgart fanden sich 1864 Vertreter verschiedener Darlehnskassen (Volksbanken) aus Württemberg und Baden zur Verbandsgründung ein (Bildnachweis: Baden-Württembergischer genossenschaftsverband e.V.).

Die Zahl der Volksbanken wuchs im Königreich Württemberg bis 1863 nur zaghaft auf insgesamt acht. Um die regionale Vernetzung weiter zu stärken, kamen am 21. August 1864 Vertreter verschiedener badischer und württembergischer Handwerks- und Vorschusskassen im Stuttgarter Bürgermuseum zusammen. Schulze-Delitzsch persönlich hielt einen Vortrag, um seiner Idee im Südwesten mehr Gehör und Zugkraft zu verschaffen. Der an diesem Tag gegründete „Verband der wirtschaftlichen Genossenschaften in Württemberg und Baden“ hielt allerdings nur bis 1867 und zerfiel in seine regionalen Einzelteile.

Besonders ab den 1880er Jahren konnte sich zudem Friedrich Wilhelm Raiffeisen mit seinem Konzept landwirtschaftlicher Kredit- und Einkaufgenossenschaften im Südwesten erfolgreich etablieren.

Geld will ausgegeben werden, doch wo? Ebenfalls im Jahre 1864 gründeten Mitglieder des Stuttgarter Arbeiterbildungsvereins ihren „Markenkonsumverein“ (später: Konsum). Günstige Preise und gute Qualität zu garantieren war Ziel der Vereinigung, die rasch Schule machte und sich im Südwesten verbreitete.

Gemeinsam lässt sich eben mehr erreichen – damals wie heute.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Institut für bankhistorische Forschung e.V. (Hrsg.): Sozialreformer, Modernisierer, Bankmanager. Biografische Skizzen aus der Geschichte des Kreditgenossenschaftswesens, München 2016 [vgl. die Kapitel zu Schulze-Delitzsch (S. 37-57) und zu Raiffeisen (S. 59-77)].
  • Martin Krauß/Sebastian Parzer: Die Chronik der Volksbank Hohenlohe eG. Im Vertrauen auf die eigene Kraft schafften 50 Bürger vor 175 Jahren das scheinbar Unmögliche …, Ubstadt-Weiher 2018 [darin: Geschichte der Volksbank Öhringen].
  • Hermann Schulze-Delitzsch: Die arbeitenden Klassen und das Associationswesen in Deutschland als Programm zu einem deutschen Congress, Leipzig 1858 [Digitalisat der Bayrischen Staatsbibliothek].
  • Zeitsprung: Podcast zur Geschichte der Genossenschaften.

Schwäbisches Morgenrot – Der Internationale Sozialisten- und Sozialistinnenkongress holt die Welt nach Stuttgart

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18. August 1907 | Wer schon einmal das schönste Volksfest Deutschlands besucht hat, der weiß: Die „Rote“ gehörte zum Cannstatter Wasen einfach dazu. Doch die folgenden Zeilen gelten nicht Bratwürsten, sondern widmen sich anderen Roten.  Am 18. August 1907 scharten sich in „musterhafter Ordnung“ mehr als 60.000 Besucher des internationalen sozialistischen Massenmeetings um die sechs aufgebauten Rednertribünen auf dem Wasen. Die ersehnten feurigen Reden bekannter SozialistInnen blieben nicht aus: Der Franzose Jean Jaurès beschwor unter stürmischen Applaus die Verbundenheit der französischen und deutschen Sozialdemokratie, während die Wahl-Württembergerin Clara Zetkin anmerkte, dass auf dem Wasen heute nicht das Herr der kapitalistischen Klassen, sondern die rote Internationale exerziere.

Beim Massenmeeting auf dem Cannstatter Wasen sprachen von sechs Tribünen herab Größen wie Rosa Luxemburg und Jean Jaurès zu rund 60.000 Zuhörenden (Bildnachweis: Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Sign. HSTAS P2 Bü2 Bild 21; Ausschnitt und Einfärbung: HdG BW/Hemberger).

Bei der Wahl Stuttgarts als Tagungsort waren die Veranstalter ursprünglich davon ausgegangen, dass sich die württembergische Regierung tolerant zeigen würde. Umso provokanter schien deshalb die Auflagenliste der Obrigkeit, die unter anderem das öffentliche Zeigen von roten Fahnen verbot. Doch zumindest beim Massenmeeting zeigte die Sozialdemokratie in Württemberg, dass sie trotz ihres insgesamt auf Kompromisse ausgerichteten Handelns nicht auf revolutionäre Symbolik verzichten wollte: Die roten Fahnen wehten.

 

In der Stuttgarter Liederhalle tagten bis zum 24. August 1907 rund 884 Delegierte, die unter anderem den weiten Weg von Japan, Australien und Südafrika auf sich genommen hatten. Energisch wurden in den Diskussionen der grassierende Militarismus und die koloniale Ausbeutung kritisiert. Auch Fragen der erzwungenen Migration als Folgen des kapitalistischen Systems wurden diskutiert. Der Kampf um das Wahlrecht für Frauen stand im Mittelpunkt der zeitgleich tagenden Frauenkonferenz, auf der die Sozialistin Rosa Luxemburg sprach. Den sachlichen Charakter des Stuttgarter Sozialistenkongresses lobte rückblickend Lenin, der bereits im Jahre 1901  am Neckar gewesen war, um seine Schrift „Was tun?“ beim örtlichen J.H.W. Dietz-Verlag zu veröffentlichen.

Der belgische Sozialist Émile Vandervelde sprach den „sehr gemütliche(n) und brave(n)“, zugleich offenen und gastfreundlichen Schwaben ein herzliches „Dankeschön“ für die zahlreich erfahrenen „Beweise internationaler brüderlicher Gesinnung“ aus.

Bis die „braven“ Schwaben sich in Revolution üben konnten, sollte es noch bis 1918/19 dauern.


Zum Weiterlesen und -forschen:

Demokratische Gehversuche – Die ersten Parteigründungen der Nachkriegszeit

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14. August 1945 | Zwölf Jahre NS-Diktatur hatten das Bild von Politik für viele Menschen in der unmittelbaren Nachkriegszeit vergiftet. Mit Parteien und politischen Organisationen wollte man nichts mehr zu tun haben. Ohnehin hatten die französischen und die US-amerikanischen Militärregierungen in ihren Besatzungszonen die Gründung von Parteien untersagt. Trotz alledem rührte sich zwischen Trümmern, der anlaufenden Entnazifizierung und dem täglichen Kampf um das Nötigste der Wunsch, die dämmernde demokratische Zukunft mitgestalten zu können. Bereits wenige Tage nach der Besetzung Stuttgarts durch die Franzosen am 21. April 1945 entstand beispielsweise das „Kampfkomitee gegen den Nationalsozialismus“, das hauptsächlich von Kommunisten und Sozialdemokraten getragen wurde. Auch in anderen Städten kamen antifaschistische Komitees zusammen, die aktiv gegen NS-Altlasten vorgingen und durch praktische Maßnahmen Ordnung in das Chaos bringen wollten.

Wofür die Christlich-Demokratische Partei stand, zeigt ein Plakat der Esslinger Ortsgruppe vom 17. Oktober 1945
(Bildnachweis: KAS/ACDP : 10-031 175 CC-BY-SA 3.0 DE).

Auch auf konservativer Seite setzten unmittelbar nach Kriegsende Bestrebungen ein, sich politisch zu vernetzen. Der Juni 1945 war geprägt von zonenübergreifenden Verhandlungen zur Etablierung einer christlich-demokratischen Partei und dem abschließenden Berliner Gründungsaufruf vom 26. Juni. Dieser Appell fand am 14. August 1945 seinen Widerhall im Südwesten. In Karlsruhe gründeten unter anderem Wilhelm Baur, Robert Beck und Fridolin Heurich die Christlich-Demokratische Partei (CDP) für Nordbaden (zur US-amerikanischen Besatzungszone gehörend). Dabei handelte es sich wohl um die erste Parteienneugründung im Südwesten der Nachkriegszeit.

Obwohl Baur und Heurich vor 1933 Mitglieder der katholischen Zentrums-partei gewesen waren, ging es ihnen nicht um eine bloße Wiedergründung der Partei. Vielmehr sollte jenseits von Konfessionsgrenzen ein Angebot für christlich und wertkonservativ eingestellte WählerInnen geschaffen werden. Der sogenannten „Mannheimer Strömung“ gelang es zudem, Ideen eines christlichen Sozialismus im Programm zu verankern. Nachdem die US-amerikanische Militärregierung am 30. August 1945 die Zulassung von Parteien offiziell erlaubt hatte, dauerte es noch bis Anfang 1946, bis aus CDP und der nordwürttembergischen Christlich-Sozialen Volkspartei die Christlich Demokratische Union wurde.

In den folgenden Jahrzehnten sollten die Christdemokraten die Politik im Südwesten wie kaum eine andere Partei bestimmen – Politikforscher wie Gerd Mielke sprachen in den 1980er Jahren sogar von der CDU als einer „Baden-Württemberg-Partei“.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Claus-Peter Grotz: Die CDU, in: Michael Eilfort (Hrsg.): Parteien in Baden-Württemberg (= Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs, Bd. 31), Stuttgart 2004, S. 37-74.
  • Hans Georg Wieck: Christliche und Freie Demokraten in Hessen, Rheinland-Pfalz, Baden und Württemberg 1945/46 (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 10), Düsseldorf 1958.

Entschleunigen ohne Albdruck – Der Schwäbische Albverein geht voran

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13. August 1888 | Jeder kennt einen Großvater oder Onkel, der einen Wanderstock sein Eigen nennt, an dem kleine silbern-bunte Plaketten aus verschiedenen malerischen Orten blitzen – das Bling-Bling der Generation Wandern. Die Heimat per pedes zu erkunden, war Ende des 19. Jahrhunderts eine beliebte Freizeitaktivität, auch im Königreich Württemberg. Zugleich beflügelte es offenbar die Gedanken: Bei einer „Albbergtour“ hatte Valentin Salzmann aus Esslingen die Idee, die Verschönerungsvereine des Umlandes besser zu vernetzen. Am 13. August 1888 trafen sich in Plochingen ein Dutzend Männer verschiedener Vereine und setzten Salzmanns Idee um: Der Schwäbische Albverein war geboren.

 

Als erstes Projekt wurde der Bau eines Aussichtsturms auf den Ruinen der Burg Teck ins Auge gefasst. Bereits im Folgejahr konnte die Eröffnungsfeier begangen werden. Ein weiteres Ziel des Schwäbischen Albvereins war (und ist) es laut Satzung, das Wandern zu erleichtern. Dem kamen die aktiven Mitglieder nach, indem sie bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges systematisch Wanderkarten erstellten und an ausgesuchten Routen eine brauchbare Beschilderung anbrachten. Der Erfolg gab den Machern Recht, zählte der Verein im Jahre 1914 doch schon rund 40.000 Mitglieder.

 

Nach der „Gleichschaltung“ des Vereins in der NS-Diktatur brachte die Nachkriegszeit den demokratischen Aufbruch. Kriegszerstörte Wanderheime wurden wieder aufgebaut, erweitert oder neu errichtet – so beispielsweise in den Jahren 1954/55 an der Burg Teck. Ab den 1970er Jahren gewann der bereits in der Frühzeit des Vereins beachtete Naturschutz zusätzlich an Gewicht. Gegen die Bedrohung des Schönbuchs sowie des Schurwalds bei Stuttgart durch einen geplanten Stausee und den Bau einer Autobahn sprachen sich die Aktiven vehement aus – mit Erfolg.

Auch die Generation Smartphone ist vertreten. Die Schwäbische Albvereinsjugend  bringt Kindern und Jugendlichen die Natur näher, bietet Freizeiten und übernimmt Verantwortung für die Welt von morgen:

„Hier erleben Jugendliche gemeinsam eine tolle Zeit in unserer Natur. In einer Zeit mit „Fridays for Future“ ist das Interesse an Nachhaltigkeit, Natur- und Umweltschutz bei Jugendlichen präsenter als je zuvor, diese Themen finden bei der Albvereinsjugend breite Diskussion.“ (Lorena Hägele, Hauptjugendwartin)

 

Wanderstock und Smartphone – warum nicht einfach beides?


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Schwäbischer Albverein (Hg.): 125 Jahre Schwäbischer Albverein. Gestern – Heute – Morgen, Stuttgart 2013.
  • Schwäbischer Albverein: Homepage.
  • Schwäbische Albvereinsjugend: Homepage.
  • Schwäbisches Kulturarchiv: Digitale Sammlung.

 

Niemals vergessen – Jugendliche gedenken des Massakers von Sant‘Anna

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12. August 2017 | 560 Menschenleben wurden in den Morgenstunden des 12. August 1944 auf grausamste Weise ausgelöscht. Was damals im kleinen toskanischen Bergdorf Sant’Anna di Stazzema geschah, liess die wenigen Überlebenden nicht mehr los. Und erschreckt die Nachgeborenen. Mit roher Gewalt metzelten Mitglieder der 16. SS-Panzergrenadierdivision Männer, Frauen, Alte, Kinder, ja sogar Säuglinge nieder. Enrico Pieri und Enio Mancini waren damals Kinder und überlebten das Massaker nur mit viel Glück.

Das zweite Trauma | Trailer

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Die Täter jedoch blieben über Jahrzehnte weitgehend unbehelligt, bis das im Jahre 1994 in Rom entdeckte Aktenmaterial dazu genutzt wurde, zehn Verantwortliche im Jahre 2005 zu lebenslänglichen Haftstrafen zu verurteilen. Vollstreckt werden konnte das italienische Urteil nicht, denn die Täter befanden sich in Deutschland und eine Auslieferung fand nicht statt. Mit Empörung nahm die italienische Seite das Ergebnis eines Verfahrens in Stuttgart auf, das den Tätern keine individuelle Schuld zumaß und diese freisprach. Die abweichenden Entscheidungen anderer deutscher Gerichte kam zu spät, waren die Täter doch entweder bereits verstorben oder nicht mehr haftfähig.

„Nie wieder Sant’Annas!“ Die Gedenkstätte in Sant’Anna di Stazzema (Bildnachweis: querwege).

Bereits 2012 brachen deutsche Unterstützer der italienischen Opferverbände zu einer Solidaritätsfahrt nach Sant’Anna auf und sendeten das Signal aus: Ihr führt euren Kampf um Gerechtigkeit nicht allein, erinnert sich Eberhard Frasch, aktiv in der „Initiative Sant’Anna“ der AnStifter Stuttgart. Im Folgejahr nahmen erneut 50 Menschen aus Baden-Württemberg an den italienischen Gedenkveranstaltungen teil, unter ihnen auch Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Staatsrätin Gisela Erler.

Mit offizieller Förderung des Landes organisierten die AnStifter 2017 das erste Friedenscamp. Deutsche und italienische Jugendliche sollten sich gemeinsam der Geschichte des Massakers vor Ort annähern, erklärt Eberhard Frasch. Dazu gehörten unter anderem Gespräche mit den Zeitzeugen Pieri und Mancini sowie das Erstellen eines Beitrags zur Gedenkfeier. In Workshops widmeten sich die Jugendlichen aktuellen Fragen rund um Europa, Völkerverständigung und Demokratie. Dies ist ganz im Sinne der Überlebenden: „Werdet Europäer! Fühlt euch europäisch! Wir brauchen Europa.“ Es sei wichtig, internationale Freundschaften zu knüpfen und zusammenzuhalten, betonte Enrico Pieri. Die Camp-Teilnehmerin Christina Gohle fasste die intensive Reise wie folgt zusammen: „Sie hat uns weinen und lachen lassen“.

Auch 75 Jahre nach dem Massaker fand das Friedenscamp wieder statt. Es ist ein Baustein für Enrico Pieris Maxime „Nie wieder Sant’Annas“ !


Zum Weiterlesen und -forschen:

„Gleiches Recht als Staatsbürger“ – Die Charta der Heimatvertriebenen

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5. August 1950 | Bad Cannstatt ist völlig zu Recht stolz auf seine umfangreichen Mineralquellen. Mit dem Großen und Kleinen Kursaal erinnert sich der Stuttgarter Stadtteil an die prächtigen Zeiten des Badeortes Cannstatt. Im angrenzenden Kurpark wird auch an ein anderes Ereignis der neueren Zeitgeschichte erinnert. Am 5. August 1950 unterzeichneten die Vertreter der Vertriebenen im Großen Kursaal die „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“.

 

 

Wasser statt Wein – der Große Kursaal war der passende Ort für die Unterzeichnung, denn zum Feiern gab es fünf Jahre nach Kriegsende wenig Anlass. Mehrere Millionen Deutsche, die durch Vertreibung und Flucht ihre Heimat verloren hatten, versuchten mühsam an neuen Orten ihre Existenz wieder aufzubauen. Willkommen waren die wenigsten gewesen. Die Vorbehalte der eingesessenen Bevölkerung gegenüber den Neuankömmlingen waren massiv. Mit den Fremden wollten Viele nichts zu tun haben oder gar teilen. Bei den Vertriebenen entstand nicht von ungefähr oft der Eindruck, sie sollten alleine den Preis des verbrecherischen Krieges und der Niederlage zahlen.

Umso beachtlicher war die „Charta der Heimatvertriebenen“. Immer wieder ist in den letzten Jahren auf die Unzulänglichkeiten und Lücken des Textes hingewiesen worden. Heute müsste manches anders und deutlicher formuliert werden. Aber das ändert nichts an dem wegweisenden Charakter der Erklärung. Die klare Absage an „Rache und Vergeltung“ war einer der großen Schritte hin zu einem friedlichen Europa. Das „Recht auf Heimat“ wurde zwar als eines der „Grundrechte der Menschheit“ postuliert, aber es sollte gerade ausdrücklich nicht durch Gewalt verwirklicht werden. Wer sich ein wenig mit der europäischen Geschichte beschäftigt hat, wird die Bedeutung dieser Haltung leicht zu schätzen wissen.

Das unzweideutige Plädoyer „für die Schaffung eines geeinten Europas“ und die Forderung nach einer vollen Integration der Vertriebenen im eigenen Land, verleihen der Charta neben dem Gewaltverzicht bis heute Gewicht:

1. Gleiches Recht als Staatsbürger nicht nur vor dem Gesetz, sondern auch in der Wirklichkeit des Alltags.

2. Gerechte und sinnvolle Verteilung der Lasten des letzten Krieges auf das ganze deutsche Volk und eine ehrliche Durchführung dieses Grundsatzes.

3. Sinnvollen Einbau aller Berufsgruppen der Heimatvertriebenen in das Leben des deutschen Volkes.

4. Tätige Einschaltung der deutschen Heimatvertriebenen in den Wiederaufbau Europas.

 

 

Die Versammlung blieb nicht auf den Kursaal beschränkt. Am nächsten Tag wurde die Charta in Stuttgart einem Publikum von rund 100.000 Menschen vorgetragen. Den Rahmen bildete die mahnende Ruine des Neuen Schlosses. Wer heute das Glück hat, dort Konzerte anzuhören, sollte an die Augusttage im Sommer 1950 denken und sein Glas darauf erheben. Am besten natürlich mit Cannstatter Mineralwasser.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Landeszentrale  für politische Bildung BW: Das „Recht auf Heimat“ als der zentrale Inhalt der Charta [Scan des Original-Dokuments].
  • Bund der Vertriebenen: Text der Charta.
  • Landeszentrale  für politische Bildung BW/Angelika Hauser-Hauswirth: Deutsche Heimatvertriebene im Südwesten (= Baden-Württemberg, Landeskunde 16/2010) [online].
  • Jörg Hackmann: Die „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ vom 5. August 1950, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2010 [online].

Der „alte Gruschd“ – Mosbach saniert seine Altstadt, nicht den Bahnhof

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27. Juli 1967 | Man nehme: Fachwerkhäuser, schmale Gässchen, Kopfsteinpflaster und eine gehörige Prise Romantik, backe dies einige Jahrhunderte und fertig ist eine typische Kleinstadt in Baden-Württemberg. Heute sind die zumeist umfassend sanierten Orte touristische Kleinode. Dies ist jedoch nicht immer so gewesen: In den 1950er Jahren waren viele alte Häuser verwohnt, Bäder und Toiletten sehr einfach gehalten und Komfort war in etlichen Wohnstuben ein Fremdwort. Das „Wirtschaftswunder“ weckte gleichermaßen Bedürfnisse wie Möglichkeiten: Fort mit dem „alten Gruschd“ war ein Satz, der auch in Mosbach im Odenwald häufig zu hören war. Ganze Häuser fielen dem Bagger zu Opfer, so beispielsweise das ehemalige Kaufhaus Held am Marktplatz oder das Fachwerkhausensemble Goebes an der Hauptstraße. Mit viel Glas und Beton schufen die Bauherren zeitgenössische Symbole des Fortschritts.

 

Des Volkes Stimme | Der „alte Gruschd“ – Mosbach saniert seine Altstadt, nicht den Bahnhof

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Was die einen als notwendig, ja sogar als Chance betrachteten, lehnten andere scharf ab. Konsequenterweise formierte sich Widerstand: Am 27. Juli 1967 wurde der Verein „Alt-Mosbach“ unter ihrem Ersten Vorsitzenden Adolf Frank in das Vereinsregister eingetragen. Als Fürsprecher für die alte Bausubstanz wollte der Verein auftreten, indem er Veränderungen in Mosbach kritisch dokumentierte und immer wieder auf den Stadtrat einredete, das historische Stadtbild nicht dem Zeitgeist zu opfern. Zudem versuchten die Aktiven, den Autoverkehr aus der engen Innenstadt herauszubringen. Diese Forderung wurde mit dem Bau der B27-Umgehungsstraße bis zum Jahre 1976 verwirklicht. Die 1970er Jahre brachten mit dem „Städtebauförderungsgesetz“ in Baden-Württemberg neue Möglichkeiten der Veränderungen: Während in Karlsruhe der Abriss des Stadtviertels „Dörfle“ anlief, besannen sich die Mosbacher auf ein Konzept der „erhaltenden Erneuerung“. In drei Stufen wurde die Innenstadt saniert, wobei Denkmalschutz und die Interessen der Anlieger gleichermaßen Beachtung fanden – Gesamtkosten: 36 Millionen DM.

 

In den 1990er Jahren erregte noch einmal der geplante Ausbau der B27-Umgehungsstraße die Mosbacher Gemüter. Dem Autoverkehr sollte der alte Bahnhof aus dem Jahr 1862, eine architektonische Visitenkarte der Stadt, geopfert werden. Eine Bürgerinitiative (BI)  ging entschlossen gegen das Projekt vor, sammelte Unterschriften und hielt Demonstrationen ab. „Das war für Mosbach schon etwas Besonderes“, erinnert sich Christine Krieger, damals selbst aktiv. Beachtlich sei zudem gewesen, dass sich über alle Parteigrenzen hinweg Mosbacher für ihren Bahnhof engagiert hatten, ergänzt Tim Krieger. Sehr ärgerlich sei die Entscheidung des Denkmalamtes Karlsruhe gewesen, das Bahnhofsgebäude zum Abriss freizugeben, obwohl es zunächst für den Erhalt plädiert hatte, so Christine Krieger weiter. Im Februar 2002 rollten die Bagger an und beendeten 140 Jahre Verkehrsgeschichte. Neben diesem „Mahnmal für die Exzesse der 1960er Jahre“ (Tim Krieger) brachten die 1990er auch viel Positives: Mit der Sanierung der „Alten Mälzerei“ ist ein vorzeigbares Kulturzentrum entstanden.

(Unser Dank gilt dem Stadtarchiv Mosbach, dem Stadtmuseum sowie den Eheleuten Krieger für die freundliche Unterstützung.)


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Große Kreisstadt Mosbach (Hrsg.): Mosbach und die Sanierung seiner Altstadt 1974 bis 1997, Mosbach 1997.
  • Verein Alt-Mosbach (Hg.): Neues Haus in alter Stadt. Kritische Würdigung baulicher Veränderungen in der Altstadt von Mosbach/B. seit 1961, Mosbach 1969.
  • Verein Alt-Mosbach (Hg.): O Mosbach! Kritik der Altstadt-„Sanierung“ in Mosbach seit 1981 (= Mosbacher Schriften, Heft 6), Mosbach 1985.
  • Bürgerinitiative „Rettet des Bahnhof“ (Hg.): Der alte Bahnhof in Mosbach. Geschichte und Zerstörung eines Kulturdenkmals, Mosbach 2002.
  • LeoBW: Überblick über fotografische Archivalien zur Altstadtsanierung Karlsruhe.

Gegen „Maulwürfe“, für die Republik – Die Reichsbannergruppe Mannheim ist auf der Wacht

Ein Kommentar

26. Juli 1924 | „Maulwürfe unterwühlen den Bestand der deutschen Republik“, warnte der sozialdemokratische Politiker Paul Löbe im Jahre 1924. Wie gefährdet die junge Demokratie in jenen Jahren war, machten Ereignisse wie der Kapp-Putsch im Jahre 1920 und der Hitler-Putsch von 1923 deutlich. Rechtsradikale und faschistische Gruppen traten mit Gewalt und Terror gegen die Republik auf, Monarchisten und Linksradikale lehnten den neuen Staat scharf ab.

Deutlich erkennbar für die Republik: Eine Reichsbanner-Anstecknadel ( Bildnachweis: Kreisarchiv Rhein-Neckar-Kreis, Abt. 20, Nachlass Willy Gärtner)

Mit diesem Zustand wollten sich viele Republikaner, darunter zahlreiche Frontsoldaten, nicht abfinden. Vertreter der SPD, der katholischen Zentrumspartei sowie der liberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) gründeten am 22. Februar 1924 in Magdeburg das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold: „Im Reichsbanner ,Schwarz-Rot-Gold‘ erhebt sich das republikanische Deutschland selbst, um seine Verfassung zu schützen“, brachte Paul Löbe dessen Ziele auf den Punkt. Als selbsternannte „Schutztruppe der Republik“ sollten nicht nur deren Feinde bekämpft, sondern auch aktiv für Grundrechte, Gleichheit und Brüderlichkeit eingestanden werden. Auch aus diesem Grunde fühlte sich das Reichsbanner programmatisch in der Nachfolge der Revolution von 1848/49, die besonders im Südwesten die Menschen auf die Barrikaden getrieben hatte.

Die Mannheimer Reichsbannergruppe vor dem Frank-Denkmal (Bildnachweis: Marchivum Mannheim, Sign. KF029130).

Innerhalb eines Jahres wuchs das Reichsbanner zu einer Millionenorganisation heran. Im badischen Rhein-Neckar-Gebiet entstand bereits im Mai 1924 eine Mannheimer Ortsgruppe. Am 26. Juli desselben Jahres traten die Mannheimer zum ersten Mal öffentlich in Erscheinung, als sie zur Fahnenweihe geladen hatten. „Die Reichsfarben sind die Volksfarben“, so eine Losung, mit denen die aktiven Republikaner die Farben Schwarz-Rot-Gold als Symbol des neuen Staates stärken wollten. Auch das Reichsbanner marschierte unter diesen Farben und grenzte sich gegen die aus der Kaiserzeit stammende Trikolore Schwarz-Weiß-Rot und deren Anhänger ab.

Die Einweihung des Denkmals für den im I. Weltkrieg umgekommenen SPD-Abgeordneten Ludwig Frank war im September 1924 der erste große Auftritt der jungen Mannheimer Ortsgruppe (zeitgen. Postkarte; Bildnachweis: Kreisarchiv Rhein-Neckar-Kreis, Abt. 20, Nachlass Willy Gärtner).

Der Sommer 1924 war geprägt von einer regen Aufbauarbeit. Ortsgruppen entstanden sowohl in Städten wie Heidelberg und Freiburg als auch in Orten wie Mosbach und Weinheim. Einen tiefen Eindruck hinterließ zudem der erste „Republikanische Tag für Südwestdeutschland“ am 27. und 28. September 1924 in Mannheim. Rund 10.000 Reichsbannerleute waren vor Ort, als im Oberen Luisenpark ein mächtiges Denkmal eingeweiht wurde. Geehrt wurde der Mannheimer Dr. Ludwig Frank, ein jüdischer Sozialdemokrat, der im Jahr 1914 im Ersten Weltkrieg gefallen war.

Das Reichsbanner entwickelte sich im Südwesten zum festen Bestandteil des demokratischen Lebens und war damit Zielscheibe nationalsozialistischer Gewalt. 1933 wurde die Organisation verboten und das Mannheimer Frank-Denkmal von den braunen Machthabern zerstört.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Jörg Kreutz: „Die Fahne der Republik ist Schwarz-Rot-Gold“. Die Anfänge des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold in der Rhein-Neckar-Region (1924–1927), in:  Martin Krauß / Ulrich Nieß (Hgg. ): Stadt, Land, Heimat. Beiträge zur Geschichte der Metropolregion Rhein-Neckar im Industriezeitalter, Basel / u.a. 2011,  S. 239-268.
  • Marcel Böhles: Im Gleichschritt für die Republik. Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold im Südwesten, 1924 bis 1933, Essen 2016.
  • LEO-BW: Eintrag und Material zu Dr. Ludwig Frank.

An allen Ufern – Der Christopher Street Day am Bodensee kennt keine Grenzen

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18. Juli 2009 | Für einen Regenbogen ist neben Sonnenschein auch Wasser notwendig. Direkt am Bodensee gelegen, bietet Konstanz somit beste Möglichkeiten, um die Farben leuchten zu lassen. Und wie sie leuchteten, als am 18. Juli 2009 die fröhliche Menge beim „Christopher Street Day (CSD) am See“ die Deutsch-Schweizer Grenze zwischen Konstanz und Kreuzlingen überschritt. Tanzend, jubelnd, protestierend hatten die Teilnehmer*Innen für eine Premiere gesorgt: Der erste grenzüberschreitende CSD weltweit sorgte hüben wie drüben dafür, dass der Kampf gegen die Diskriminierung Homosexueller und für die Anerkennung verschiedener sexueller Identitäten hörbarer und sichtbarer wurde. Die CSD-Paraden gehen auf die 1969er Proteste nach einer brutalen Razzia gegen Schwule und Lesben in einer New Yorker Kneipe zurück. Seitdem gibt es weltweit CSD-Veranstaltungen, die zwischen politischen Demonstrationen und schrill-bunten Partys pendeln.

Des Volkes Stimme | „Vom anderen Ufer“ – der CSD am Bodensee kennt keine Grenzen

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Auf der ersten Konstanzer CSD-Veranstaltung im Jahre 1992 boten rund 50 Menschen den damals noch häufig anzutreffenden Vorurteilen und Anfeindungen die Stirn. Die Formulierung „Vom anderen Ufern sein“ wurde vielfach noch abwertend gebraucht und sollte eine deutliche Abwertung bezeichnen. Solidarisch und kämpferisch stellten sich Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender Personen den Ressentiments entgegen. Selbstbewusst erhoben sie politische Forderungen wie beispielsweise nach der gleichgeschlechtlichen Ehe oder der Berücksichtigung verschiedener sexueller Orientierungen im Schulunterricht.

Der „CSD am See“ machte in den Folgejahren in verschiedenen Bodenseestädten Station. Mit dem 2009 erfolgten Sprung in die Schweiz pfiffen die Aktivisten und Teilnehmenden auf alle Grenzen und sorgten mit bekannten Szenegrößen wie Lilo Wanders und Ralph Morgenstern für Stimmung und Beachtung ihrer Anliegen. Zwischen den alle zwei Jahre stattfindenden CSD-Paraden initiiert der Verein „CSD in Konstanz“ zahlreiche Aktionen, Informationen und Unterhaltung. So bieten Ehrenamtliche des Projekts „SchLAu“ (Schwul Lesbisch Bi Trans Aufklärung) Workshops an, in denen Jugendliche und Erwachsene für sexuelle Vielfalt sensibilisiert werden, um gegen Homophobie und Mobbing auftreten zu können.


Zum Weiterlesen und -forschen:

Ade, ihr Privilegierten – Die Zweite Kammer Württembergs wird reformiert

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16. Juli 1906 |  Wer auf der VIP-Liste steht, muss sich nicht anstellen und bekommt oftmals die besten Drinks spendiert. Das Königreich Württemberg bot mit seinen Zwei Kammer-System den äußerst wichtigen Bürgern lange Zeit sogar doppelte politische Privilegien. Laut Verfassung war die Erste Kammer den Adligen und den vom König bestimmten Staatsbürgern vorbehalten. 70 Mitglieder der Zweiten Kammer wurden von den männlichen Wahlberechtigten Württembergs gewählt; zusätzlich nahmen 23 „Privilegierte“ ohne Wahl in der Kammer Platz, darunter Vertreter des Ritteradels, der Kirchen sowie der Kanzler der Universität Tübingen.

 

Ab den 1870er Jahren wurden Stimmen lauter, die eine reine Volkskammer ohne „Privilegierte“ forderten. Der Druck von Bürgertum und Arbeiterbewegung wuchs mit den Jahren, sodass am 8. April 1894 Ministerpräsident Hermann von Mittnacht einen konkreten Entwurf für eine Verfassungsänderung vorlegte. Da lediglich die Anzahl der „Privilegierten“ gesenkt werden sollte, wurde der Vorschlag verworfen und die Diskussion ging in die Verlängerung. Doch erst im Jahre 1904 rückte eine echte Lösung in Reichweite.  Ministerpräsident Wilhelm August von Breitling (im Amt von 1901 bis 1906)  sowie König Wilhelm II. drängten auf eine baldige Lösung. Nach zähen Verhandlungen, unter anderem mit dem Präsidenten der Zweiten Kammer Friedrich Payer, war man sich einig: Die „Privilegierten“ sollten aus der Zweiten Kammer in die Erste umziehen; und der ehemaligen Vertretung des Adels sollte fortan Vertreter der Hochschulen, des Handwerks und der Landwirtschaft angehören.

Kompromissbereit: Der Sozialdemokrat Wilhelm Keil setzte auf kleine Schritte, um die Verfassungsänderung durchzubringen (Porträt der 1920er Jahre, Einfärbungen: HdG BW/Hemberger).

Bei der Abstimmung über die Verfassungsänderung stimmte am 9. Juli 1906 die katholische Zentrumspartei in der Zweiten Kammer mit 20 Stimmen gegen den Entwurf, die „Privilegierten“, die Volkspartei und die Sozialdemokraten stimmten dafür (66 Pro-Stimmen). Am Folgetag bilanzierte die württembergische SPD in der „Schwäbischen Tagwacht“: „Wie wir darüber denken? Wir sind nicht entzückt davon. Aber wir haben die Überzeugung gewonnen, daß bei den bestehenden Parteiverhältnissen und bei der Politik, wie sie die bürgerlichen Parteien betreiben, vorläufig eine bessere Reform nicht durchzusetzen ist.“  „Verfassungsfragen sind Machtfragen“, betonten die Sozialdemokraten in einem Wahlaufruf zur Landtagswahl am 12. Juli 1906. Aus taktischen Gründen war die bürgerlich-liberale Volkspartei von ihren frühen Forderungen nach Abschaffung der Ersten Kammer (dies forderte auch die SPD) abgerückt. Die gestellte Machtfrage war mit einem Kompromiss beantwortet worden. Am 16. Juli 1906 trat die neue Verfassung Württembergs in Kraft.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Paul Sauer: Württemberg im Kaiserreich. Bürgerliches Freiheitsstreben und monarchischer Obrigkeitsstaat, Tübingen 2011, S. 234-246.
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