Pinkelpausen am Fließband – ArbeiterInnen erstreiken die „Steinkühlerpause“

Ein Kommentar

16. Oktober 1973 | „Fließbandbaby, manchmal träum‘ ich, von der Fabrik, in der du arbeiten musst!“ Den Traum, den die Kölner Politrockband Floh de Cologne in einem ihrer Stücke besang, war auch für die Gewerkschaften ein echter Albtraum. Immer schneller lief das Band, immer mehr musste in immer kürzerer Zeit fertigwerden, und selbst beim Gang zur Toilette gängelte die Stoppuhr. Die Unzufriedenheit wuchs unter den Arbeiterinnen und Arbeitern und entlud sich nicht zuletzt im Jahr 1973 in spontanen „Wilden Streiks“. Die Verhandlungen der IG-Metall mit dem Metallarbeitgeberverband zog sich seit 1970 dahin. Forderungen der Gewerkschaft nach einer „Humanisierung der Fabrikarbeit“ lehnte die Unternehmerseite strikt ab: „Hirngespinste!“, so der Vorwurf.

Des Volkes Stimme | Pinkelpausen am Fließband – mehr Humanität am Arbeitsplatz

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1972 übernahm Franz Steinkühler als „junger Wilder“ den Vorsitz des IG-Metallbezirks Stuttgart vom Gewerkschafts-Urgestein Willi Bleicher – und schaltete in der Automobilstadt in den Turbo. Am Morgen des 16. Oktobers ging in den großen Werken der Automobilindustrie nichts mehr. 89 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder hatten sich für Schwerpunktstreiks ausgesprochen, an denen sich bis zu 57.000 Menschen beteiligten. Vier Tage später war der „Lohnrahmentarifvertrag II“ unter Dach und Fach. Darin festgelegt waren höhere Löhne sowie die allgemeine Verbesserung der Arbeitsbedingungen am Fließband. Als Dreingabe gab es für Akkordbeschäftigte fünf Minuten Pause (die berühmte „Steinkühlerpause“) und drei Minuten für den Gang zum stillen Örtchen pro Stunde extra.

Steinkühler jubelte: „Wenn in Zukunft jemand Sonntagsreden über die Qualität des Lebens hält, können wir ihm zeigen, wie man sie erkämpfen kann. In jeder Stunde hat jetzt der Arbeiter Zeit für sich! Es gibt keine entwürdigenden Stoppuhren mehr, wenn er auf’s Örtchen geht!“ (IGM-Streiknachrichten, 23. Oktober 1973)

Des Volkes Stimme | Pinkelpausen am Fließband – Streik für die „Steinkühlerpause“

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Zum Weiterlesen und -forschen:

/// HäuslebauerInnen kommen morgen auf ihre Kosten. Wir öffnen Ihnen ein Fenster.

Ein violetter Gedankenstrich – die Spur der Erinnerung von Grafeneck nach Stuttgart

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13. Oktober 2009 | Das Morden fand mitten im Land statt. Nicht irgendwo in Osteuropa, sondern auf der Schwäbischen Alb, auf Schloss Grafeneck. Zwischen 1940 und 1941 wurden dort mindestens 10.654 Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen ermordet – in einer Gaskammer. Erst die zunehmenden Proteste aus der Bevölkerung beendeten das Morden.

Des Volkes Stimme | Ein violetter Gedankenstrich - die Spur der Erinnerung

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Auf Initiative des Koordinationstreffens Tübinger Behindertengruppen begann fast 70 Jahre später eine einzigartige Aktion. Vom 13. Oktober 2009 an zogen mehrere tausend Menschen eine 80 km lange violette Linie von Grafeneck bis in die Stuttgarter Dorotheenstraße. Dort hatte am 14. Oktober 1939 das württembergische Innenministerium auf Anweisung aus Berlin die Beschlagnahmung des Schlosses für „Zwecke des Reiches“ durchgeführt. Begleitet wurde die „Spur der Erinnerung“ durch zahllose Veranstaltungen von Initiativen, Jugendhäusern, Schulen oder den Kirchen.

 

Eine Linie, die alles andere als ein Strich unter die Vergangenheit ist.


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/// Am 16. Oktober folgt ein großer Kampf um eine kleine Pause

Sonderzug nach Leutkirch – der Bürgerbahnhof im Allgäu

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12. Oktober 2010 | Haben Sie heute an einem alten, verkommenen Bahnhof auf den verspäteten Zug gewartet? Lassen Sie sich nicht entmutigen: Fahren Sie mit dem nächsten Zug einfach nach Leutkirch im Allgäu. Dort gibt es einen Bahnhof, der allein eine Reise wert ist. Eine Brauerei-Gaststätte begrüßt die Reisenden, in der ersten Etage wird in Büros gearbeitet und im Dachgeschoss diskutieren die LeutkircherInnen in einem Informationszentrum, wie ihre Stadt nachhaltig gestaltet werden kann.

Des Volkes Stimme | Sonderzug ins Allgäu - der Bürgerbahnhof in Leutkirch

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Das Schmuckstück ist den aktuell 707 Mitgliedern der Genossenschaft „Leutkircher Bürger-Bahnhof“ zu verdanken. Statt sich weiter über den Verfall ihres wunderschönen, 1889 im großen Eisenbahnzeitalter erbauten Bahnhofs zu ärgern, nahmen 161 Bürgerinnen und Bürger am 12. Oktober 2010 die Sache selbst in die Hand. Die von ihnen gegründete Genossenschaft pachtete den Bahnhof und finanzierte etwa zur Hälfte die Kosten für den rettenden Umbau des dahinsiechenden Gebäudes. Vom Baby bis zum Rentner – quer durch alle Altersstufen zeichneten die LeutkircherInnen Anteilsscheine meist zwischen 1.000 und 2.000 Euro. Den Bürgerinnen und Bürgern ist ihr Bahnhof etwas wert.

Zumindest in Leutkirch ist das Warten auf den nächsten Zug also kein Problem mehr – zur Nachahmung empfohlen!


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/// Erinnerung in Violett: Lesen Sie morgen, was es damit auf sich hat.

Bürger in die Verwaltung! – die badische Verwaltungsreform von 1863

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5. Oktober 1863 | Bürgerbeteiligung kann staubtrocken sein. Die Einführung von „Bezirksräten“ und „Kreisversammlungen“ klingt wahrlich nicht aufregend. Und doch verbirgt sich hinter dem am 5. Oktober 1863 von Großherzog Friedrich unterzeichnetem Gesetz zur „Organisation der inneren Verwaltung“ eine (kleine) Revolution in Baden: Die Übertragung von Teilen der Verwaltung auf die Bürgerschaft.

(Vorsicht, die folgenden Zeilen sind nur für echte VerwaltungsliebhaberInnen oder Beteiligungsprofis geeignet:)

Den aus echten Bürokraten bestehenden Bezirksämtern wurde jeweils ein Bezirksrat zur Seite gestellt, der aus sechs bis neun Bürgern (!) bestehen sollte. Die ehrenamtlichen Bezirksräte erhielten ihr Mandat jedoch nicht direkt vom Wahlvolk, sondern von den ebenfalls neuen Kreisversammlungen (die wiederum gewählt wurden). Wer Bezirksrat werden wollte, benötigte schlicht „Kenntnisse, Tüchtigkeit und Gemeinsinn“ – für die Teilhabe schien also nicht jedermann (es ging natürlich nur um Männer) geeignet zu sein. Mitsprache bei öffentlichen Baumaßnahmen oder der Verleihung von Gewerbekonzessionen – das sollte der Stoff für die Bezirksräte sein. Überraschenderweise wurden sie auch zur ersten Instanz der Rechtspflege in öffentlichen Streitfällen erklärt. Die Kreisversammlungen bekamen zudem Zuständigkeiten bei den Finanzen der Kreise, dem Straßenbau oder auch bei der Armenfürsorge zugewiesen. Und: Eine ganze Ebene der Verwaltung wurde dafür abgeschafft, die seitherigen Kreisregierungen entfielen.

Grimmig, wenn man den Gesetzestext nicht liest: August Lamey. Bildnachweis: MARCHIVUM, Mannheim
Grimmig, wenn man den Gesetzestext nicht liest: August Lamey (Bildnachweis: MARCHIVUM, Mannheim).

Die Hoffnungen der von August Lamey angeführten liberalen Reformer waren gewaltig: Das „Selbstgefühl der Bürger und die Lust an Besorgung ihrer eigenen Angelegenheiten“ sollten erweckt werden.

Vielleicht ist die Lektüre von diesem Gesetz auch heute noch spannend.

 

 

 

 


Zum Weiterlesen und -forschen:

  •  Rüdiger von Krosigk: Bürger in die Verwaltung! Bürokratiekritik und Bürgerbeteiligung in Baden. Zur Geschichte moderner Staatlichkeit im Deutschland des 19. Jahrhunderts, Bielefeld 2010.

|||  Bürgerbeteiligung – Sie verstehen nur Bahnhof? Nicht schlimm, unser nächster Eintrag am 12. Oktober lässt Sie nicht dumm dastehen !

Dr. K. hat es geschafft – das Gesetz zur Gleichstellung der Juden in Baden

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4. Oktober 1862 | Dr. K. aus K. hatte es geschafft: Student der Rechtswissenschaften in Heidelberg und München, anschließend Rechtsanwalt, der unter anderem einen Revoluzzer vor der Todesstrafe bewahren konnte. Auch politisch lief es für K. rund, konnte er doch als Liberaler einen Posten als Abgeordneter in Karlsruhe erkämpfen. Und doch grübelte Dr. K.: Wie viel einfacher wäre es gewesen, wenn ich nicht als Jude geboren worden wäre?

Portrait Rudolf Kusels (Bildnachweis: Bestand Stadtarchiv Karlsruhe 8/PBS III 843)

Am 25. April 1862 berieten die Abgeordneten der Zweiten Kammer des Großherzogtums Badens das „Gesetz über die bürgerliche Gleichstellung der Israeliten“. Dr. Rudolf Kusel aus Karlsruhe ergriff das Wort: „Nicht als Jude, sondern als Abgeordneter spreche er. […] Die Juden sind keine Fremdlinge, wie behauptet wurde; […] sie erkennen kein anderes Vaterland an, als Deutschland. Sie verlangen keine Gnade, nur Gerechtigkeit […]. Die badische Kammer wird heute […] es aussprechen, dass in diesem gesegneten Lande wegen seines Glaubens Niemand in seinem bürgerlichen Rechte beschränkt, Niemand mehr unfrei sein soll.“

Vor dem „Konstitutionsedikt“ von 1809 war es den badischen Juden als „Schutzbürger“ sogar verboten, ihren Wohnort frei zu wählen. Nun wurden ihnen erste Bürgerrechte zugesprochen, sie durften ab 1848 in den Staatsdienst eintreten und als Abgeordnete gewählt werden. Jedoch zog erst im Jahre 1861 Dr. Kusel als erster jüdischer Abgeordnete in die Zweite Kammer ein. Am 4. Oktober 1862 unterzeichnete Großherzog Friedrich das maßgeblich vom liberalen Staatsminister August Lamey erarbeitete Gleichstellungsgesetz. Damit erhielten die badischen Juden sämtliche gemeindebürgerlichen Rechte zugesprochen, die ihnen bis dato verwehrt geblieben waren, beispielsweise die Armenversorgung durch die Gemeinde.

So wurde aus Dr. K. der badische Bürger Dr. Rudolf Kusel.


Zum Weiterlesen und -forschen:

/// Bereits morgen folgen das nächste Onlinekalenderblatt und noch mehr Bürgerrechte.

Erst stirbt der Wald, dann du? – Aktionswoche gegen das Waldsterben

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02. Oktober 1983 | Er war sauer, sogar richtig ätzend. Die Rede ist vom Regen, der in den 1970er und 80er Jahren nicht zuletzt zwischen Freudenstadt und Freiburg auf den vielgerühmten und besungenen Schwarzwald niederging. „Rauchfahnen aus Kaminen wehn – Von Lörrach bis nach Zell!“: Was in einer Version des Badnerlieds noch stolz besungen wurde, rückte immer stärker in den Fokus der Kritik. Schwefeldioxid aus den Schornsteinen von Industrie und Wohnhäusern war mit der Grund, dass der Touristenmagnet, Erholungs- und Lebensraum schon bald „aus dem letzten Loch pfiff.“

Des Volkes Stimme | Erst stirbt der Wald, dann du? – Aktionswoche gegen das Waldsterben

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Diesen Zustand wollten Umweltverbände wie die „Freudenstädter Aktionseinheit“ nicht hinnehmen und riefen zur Aktionskonferenz gegen das Waldsterben nach Freudenstadt. Mit einer ungewöhnlichen Idee bewegten UmweltschützerInnen zahlreiche Bundestagsabgeordnete, die Schäden vor Ort in Augenschein zu nehmen.

Die Bilanz der anschließenden Veränderungen ist durchwachsen: Luftverschmutzungsnormen wurden verschärft und ein jährlicher Waldschadensbericht dokumentierte fortan, wie es um Fichte, Tanne und Co steht. Doch schon die nächste Bedrohung bereitet heute Kopfzerbrechen: der Klimawandel.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Forstliche Versuchs- und Forschungsanstalt BW: Die Waldzustandsberichte seit 2002 online.
  • Nobert F. Pötzl: „Nadeln fallen grad so raus“, in: DER SPIEGEL Jg. 1984), H. 51 , S. 36-56 [Digitalisat].
  • Stadtarchiv Freudenstadt: Signatur: N 2.10 Aktionseinheit gegen das Waldsterben.
  • Generallandesarchiv Karlsruhe: Signatur: 392 Freudenstadt Nr. 146.

|||  Am 04. Oktober erscheint der nächste Eintrag: Dr. K. aus K. wird Bürger.

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