Filderkraut statt Flughafen – die Schutzgemeinschaft Filder nimmt den Kampf auf

Ein Kommentar

31. Oktober 1967 | Der Schauspieler Louis de Funès setzte mit seinem kultigen Filmklamauk „Louis und die außerirdischen Kohlköpfe“ einer wahren Vitamin-C-Bombe ein Denkmal. Im Film waren Außerirdische von der Kohlsuppe zweier französischer Bauern dermaßen begeistert, dass sie zum Dank den beiden einen Alterswohnsitz auf einem fernen Planeten anboten, wo sie in Ruhe und Frieden leben konnten.

Nicht gewöhnlicher Kohl, sondern das edle Filderspitzkraut, und auch keine UFOs, sondern lärmende irdische Flugzeuge spielten Mitte der 1960er Jahre auf der Filderebene im Süden von Stuttgart eine Hauptrolle. Im Sommer 1967 wurde der Generalausbauplan für den Flughafen Stuttgart verkündet: Drei Landebahnen sollten bei Plieningen das Ländle an die „große weite Welt“ anbinden und interkontinentale Flugverbindungen ermöglichen. Doch wer neben dem bestehenden Flughafen wohnte, war bereits damals von Lärm und Abgasen geplagt und fürchtete eine massive Dauerbeschallung. Landwirte warnten vor einer Betonierung des fruchtbaren Filderbodens: Drohte das Ende des Filderkrautes und mit ihm der Landwirtschaft vor Ort?

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52 Aktive beschlossen in einer Versammlung in Plieningen, als „Schutzgemeinschaft gegen Großflughafen e.V“ den Kampf aufzunehmen. Bereits ein Jahr später war die Mitgliederzahl der Bürgerinitiative auf 5.000 angewachsen und ein erster Erfolg zu vermelden: Gemeinsam mit 22 Anliegerstädten und -gemeinden konnte ein Nachtstartverbot für moderne Düsenflugzeuge erstritten werden. In den Folgejahren stand die Bürgerinitiative  unter ihrer rührigen Vorsitzenden Liesel Hartenstein vor immer neuen Herausforderungen, sei es nun bei der Durchsetzung von Schallschutzmaßnahmen, der Abwehr weiterer Ausbaupläne des Flughafens und ab den 1990er Jahren beim Streit um den Neubau der Messe. Nicht immer waren die Spitzkrautfreunde erfolgreich, doch aufgeben kam nicht in Frage: 2017 feierte die Schutzgemeinschaft ihren 50. Geburtstag und ist damit die älteste existierende Umweltinitiative Deutschlands.


Zum Weiterlesen und -forschen:

/// Unser nächstes Kalenderblatt folgt am 4. November. Die Revolution nimmt Fahrt auf.

Premiere in Mannheim – die erste Vorlesung einer Frau

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29. Oktober 1908 | Die besten Überraschungen kommen immer am Ende. Die LeserInnen des Mannheimer General-Anzeigers vom 26. September 1908 staunten nicht schlecht, als sie die letzten Zeilen der Ankündigung der öffentlichen Vorlesungen im Wintersemester an der Mannheimer Handelshochschule lasen: „Und die erste von einer weiblichen Dozentin in einer deutschen Hochschule abgehaltene Vorlesung der Frau Altmann-Gottheiner über die Arbeiterinnenfrage, donnerstags.“

Im Vorlesungsverzeichnis der Handelsschule Mannheim steht es schwarz auf weiß: Frau Dr. Altmann-Gottheiner lehrt.
Im Vorlesungsverzeichnis der Handelsschule Mannheim steht es schwarz auf weiß: Frau Dr. Altmann-Gottheiner lehrt. (Bildnachweis: Universitätsarchiv Mannheim)

Am 29. Oktober 1908 war es um 19 Uhr soweit. Im Auditorium der Handelshochschule trat eine Frau an das Katheder, um ihre Vorlesung zu halten. Nicht weniger als 61 Jahre nachdem Louise Dittmar ebenfalls in Mannheim im ersten öffentlichen Vortrag einer Frau über die Gleichberechtigung gesprochen hatte, vollzog Dr. Elisabeth Altmann-Gottheiner einen weiteren großen Schritt in Richtung Emanzipation der Geschlechter. Das Thema ihrer Lesung sprach für sich.

Frau Dr. Altmann-Gottheiner (Bildnachweis: Universitätsarchiv Mannheim)
Frau Dr. Altmann-Gottheiner (Bildnachweis: Universitätsarchiv Mannheim)

Elisabeth Gottheiner war am 26. März 1874 in Berlin geboren worden. Da in Deutschland die Beschränkungen für Frauen allgegenwärtig waren, ging sie zum Studium der National-Ökonomie nach London und Zürich, wo sie 1902 promovierte. In Frankfurt am Main setzte sie sich aktiv für die Frauenbewegung ein, bevor ihr Ehemann Sally Altmann einen Lehrauftrag in Mannheim erhielt. Sie selbst wurde als „Lehrkraft für einzelne Vorlesungen“ angestellt. Ihren wissenschaftlichen Schwerpunkt setzte sie fortan bei Themen der Frauen- und Sozialpolitik. Auch nach dem Krieg blieb sie in Mannheim und etablierte sich endgültig an der Hochschule. Am 30. April 1925 wurde sie zur Professorin ernannt. Nur fünf Jahre später verstarb sie.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Isabel Funke: Frauenbildung im Kaiserreich. Elisabeth Altmann-Gottheiner im Kontext ihrer Zeit, Bachelorarbeit an der Universität Mannheim, 2014.
  • Rosmarie Günther: Eine vorbildliche Netzwerkerin – Elisabeth Altmann-Gottheiner (1874-1930), in: Mannheimer Geschichtsblätter remmagazin 20/2010, S. 21-34.
  • LEO-BW: Lebenslauf von Elisabeth Altmann-Gottheiner.

/// Am 31. Oktober wird es laut. Doch keine Angst: Bürgerinnen und Bürger wehrten sich!

Kampf dem Preiswucher! (Teil 2) – der „Stuttgarter Tumult“

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28. Oktober 1948 | Was die MannheimerInnen mit ihrer Protestkundgebung am 20. Oktober 1948 erfolgreich vorgemacht hatten, wollten die Menschen in  Stuttgarter ebenfalls haben. Auch in Stuttgart hatten die kleinen SparerInnen durch die Währungsreform ihr Vermögen verloren, auch in Stuttgart waren die Preise enorm gestiegen und die Löhne niedrig geblieben, auch in Stuttgart waren Bauprojekte eingestellt worden und die Zahl der Arbeitslosen gestiegen. Die Unzufriedenheit ließ sich nicht mehr übersehen.

Vor den Ruinen des Alten Schlosses in Stuttgart regte sich der Massenprotest (Bildnachweis: Stadtarchiv Stuttgart).
Vor den Ruinen des Alten Schlosses in Stuttgart regte sich der Massenprotest (Bildnachweis: Stadtarchiv Stuttgart).

Auf dem Karlsplatz versammelten sich am 28. Oktober ab 13 Uhr rund 50.000 ArbeiterInnen. Der Stuttgarter Gewerk-schaftsvorsitzende Hans Stetter wurde deutlich: „Was wir verlangen ist eine planmäßig gelenkte Wirtschaft mit staatlich kontrollierten Preisen.“ Lohn- und Gehaltserhöhungen sollten sofort erfolgen. Auch gegenüber der amerikanischen Besatzungsmacht nahm er kein Blatt vor den Mund: „Wir fragen, wo bleibt der demokratische Gedanke, wenn die Besatzungsmacht die Außerkraftsetzung der Bestimmungen über das Mitbestimmungsrecht in wirtschaftlichen Fragen anordnet.“

Aber anders als in Mannheim blieb es in Stuttgart nicht nur bei Worten. Im unteren Teil der Königstraße ging ein Schaufenster zu Bruch, Rangeleien mit Polizisten und sogar auch mit Militärpolizisten folgten, wobei mehrere von ihnen verletzt wurden. Tränengas und Panzerwagen kamen zum Einsatz, über 30 Personen wurden festgenommen. Die amerikanische Militärregierung antwortete mit einem Versammlungsverbot und einer Ausgangssperre von 21 bis 4 Uhr. Militärgouverneur Lucius D. Clay stellte Stetter persönlich scharf zur Rede. Für diesen war danach klar, dass Clay „für die sozialen Nöte der Arbeiterschaft und des deutschen Volkes nichts übrig“ habe.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Roland Müller: Der „Stuttgarter Tumult“ vom 28. Oktober 1948 – Protest im Spannungsfeld von Währungsreform und Kaltem Krieg, in: Wege in ein neues Leben: Die Nachkriegszeit, Stuttgarter Symposion 2015. Herausgegeben vom Haus der Geschichte Baden-Württemberg in Verbindung mit der Stadt Stuttgart, Ubstadt-Weiher 2017, S. 121-147.

/// Preiswucher: Ein Thema, das sicherlich auch eine herausragende Mannheimer Nationalökonomin interessiert hätte. Wer es war lesen Sie morgen.

Immer wieder montags – der Protest gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21

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26. Oktober 2009 | „So eine Art Montagsdemo“ sollte es werden. Von Demo konnte am 26. Oktober 2009 aber kaum die Rede sein. 1, 2, 3, 4, 5 – mehr Teilnehmende gab es beim ersten Termin nicht. Und die waren auch noch an verschiedenen Orten unterwegs. Zwei Frauen standen vor dem Stuttgarter Rathaus, und drei Männer vor dem Nordausgang des Hauptbahnhofs. Ein paar Wochen später waren es Tausende, die gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 pfiffen und schrien. Jetzt konnten die StuttgarterInnen dem Leipziger Beispiel vom Herbst 1989 doch noch erfolgreich nacheifern.

Des Volkes Stimme | Immer wieder montags – der Protest gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21

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100, 200, 300, 400 – inzwischen sind es in Stuttgart schon weit mehr Montagsdemonstrationen geworden, als es jemals in Leipzig gab. Der Protest gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 ist zu einem Dauerbrenner geworden. Der Bahnhof wird zwar seit Jahren gebaut, aber ein Ende ist nicht absehbar – weder beim Bau, noch beim Protest.

Ob die Montagsdemonstrationen jemals ihren ursprünglichen Zweck erreichen werden, ist mehr als fraglich. Aber vielleicht haben sie ja bereits etwas anderes unter Beweis gestellt: BürgerInnen können (und müssen) manchmal sehr ausdauernd sein.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Haus der Geschichte Baden-Württemberg (Hg.): Dagegen leben? Der Bauzaun und Stuttgart 21. Katalog zur Sonderausstellung, 16. Dezember 2011 bis 1. April 2012, Stuttgart 2011.
  • Frank Brettschneider / Wolfgang Schuster (Hgg.): Stuttgart 21 – ein Großprojekt zwischen Protest und Akzeptanz. Wiesbaden 2013.

/// Penunzen, Moneten, Kröten: Im nächsten Kalenderblatt am 28. Oktober dreht sich alles um das „liebe Geld“ und was man sich davon (nicht) kaufen kann.

1918, der Südwesten erhebt sich (Teil 1) – Fritz Rück spricht Klartext

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24. Oktober 1918 | Deutschland im Oktober 1918: Hunger und Krieg und keine Aussicht auf Besserung. Im Gegenteil: Die Arbeiter der Zeppelinwerft in Friedrichshafen waren zu einem „Vaterländischen Erbauungsabend“ geladen, auf dem der SPD-Abgeordnete Paul Lensch seine Durchhalteparolen verbreiten wollte. Nicht eingeladen, dennoch anwesend war ein gewisser Fritz Rück aus Stuttgart. Mit seinen kritischen Einwürfen brachte er den Redner aus dem Konzept und den Saal zum Kochen, ein „Orkan von Beifall“ erhob sich. Rück war 1917 Mitglied der Spartakus-Gruppe geworden und führte ab Oktober 1917 die USPD in Württemberg, eine SPD-Abspaltung, die sich gegen die Fortsetzung des Krieges stark machte.

Demonstration Ende Oktober 1918 in Friedrichshafen (Bildnachweis: Kreisarchiv Bodenseekreis).
Demonstration Ende Oktober 1918 in Friedrichshafen (Bildnachweis: Kreisarchiv Bodenseekreis).

Dasitzen und abnicken, das war nicht sein Stil. So forderte Rück vom Redeleiter eine freie Aussprache nach dem Referat. „‚Hier gibt es keine Aussprache‘, fauchte der Oberingenieur. ‚Dann gehen wir!‘“, antwortete das Publikum. Ein Teil der Versammlung schritt durch die Tür und mit der Arbeitermarseillaise auf den Lippen zogen sie durch die dunklen Friedrichshafener Straßen. Auf dem Marktplatz redete nun Fritz Rück zu 400 Menschen: „Vom Rande eines Brunnentrogs aus entwickelte ich die Grundzüge des revolutionären Programms“, schreibt er in einer zeitnah erschienenen Erinnerungsschrift. Nieder mit dem Krieg, hoch die sozialistische Republik, so zwei Kernforderungen. Was zwei Tage vorher mit den Demonstrationen der Maybach-Arbeiter in Friedrichshafen begonnen hatte, nahm nun weiter Fahrt auf. Noch vor dem Aufstand der Kieler Matrosen Anfang November setzte die Arbeiterschaft im äußersten Südwesten ein Signal gegen Krieg und für die Revolution.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Die Erinnerungen Fritz Rücks an die Revolution im Südwesten, vgl. Fritz Rück: Schriften zur deutschen Novemberrevolution (=Beiträge zur Geschichte des Sozialismus und der sozialen Bewegung in Süddeutschland, Bd. II), hrsg. von Ulrich Cassel/u.a., Stuttgart 1978.
  • Elisabeth Benz: Ein halbes Leben für die Revolution. Fritz Rück (1895 – 1959). Eine politische Biografie, Essen 2014.
  • Haus der Geschichte Baden-Württemberg (Hg.): Vertrauensfragen. Der Anfang der Demokratie im Südwesten, 1918 – 1924. Katalog zur Großen Landesausstellung, Haus der Geschichte Baden-Württemberg, 30. September 2018 bis 11. August 2019, Stuttgart 2018.

/// Am 26. Oktober erscheint ein neues Kalenderblatt. Wieder geht es um einen Bahnhof, der die Gemüter erhitzt.

Hand in Hand zum Frieden – die Rekord-Menschenkette der Friedensbewegung

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22. Oktober 1983 | Im Atomzeitalter schien selbst Gevatter Tod seine alte Sense zur Seite gelegt zu haben und auf Atomwaffen umgestiegen zu sein. Anfang der 1980er Jahre war der Rüstungswettlauf zwischen den NATO-Staaten im Westen und den Staaten des Warschauer Vertrages im Osten auf einem neuen Höhepunkt angelangt. Atomwaffen befanden sich bereits seit Längerem auch auf dem Gebiet der Bundesrepublik und der DDR. Aber jetzt sollten es noch mehr werden. Die Sowjetunion erneuerte ihre veralteten atomaren Mittelstreckenraketen durch die SS-20, die NATO sah darin eine zusätzliche Bedrohung und wollte mit den Waffensystemen Pershing II und Cruise Missiles nachziehen. Die Friedensbewegung in Westdeutschland blühte auf: Kirchen, Gewerkschaften, Ökogruppen, Jung und Alt fanden sich zu einer bunten Truppe zusammen, um ein Zeichen gegen die Nachrüstung zu setzen.

Des Volkes Stimme | Hand in Hand zum Frieden – die Rekord-Menschenkette der Friedensbewegung

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Im Oktober 1983 schwappte eine regelrechte Protestwelle durch den Südwesten. So verschrotteten beispielsweise über 600 Frauen in Freiburg symbolisch Raketenmodelle aus Pappmaché. Mehr als 1000 Personen, zumeist Jugendliche, besetzten in einem „Akt der aktiven Gewaltlosigkeit“ die Werkstore von „Litef“, einem Zulieferer für die großen Rüstungsbetriebe. Freiburger Schülerinnen und Schüler lösten große Diskussionen mit ihren Aufrufen in der Schulzeitung aus, für die Friedensproteste einfach mal zu schwänzen.

Höhepunkt der Demonstrationen war unzweifelhaft die Menschenkette  entlang der Bundestraße B10 zwischen Stuttgart und Neu-Ulm. Zwischen 200.000 und 400.000 Friedensbewegte standen Hand in Hand, sangen Lieder, zeigten Protestplakate. Kreativ, bunt und entschlossen war das Happening. Von überall her kamen sie. Auch 6.300 Menschen aus Südbaden reihten sich bei Plochingen ein, so friedlich, dass selbst ein mürrischer Wirt am Bahnhof nur halbherzig lästern konnte: „An Vogel habet se alle. Aber anständig waret se doch.“ (Badische Zeitung, 24. Oktober 1983).

Die Raketen kamen trotzdem.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Sabrina Müller: Volksversammlung als symbol und Appell: Die Menschenkette von Stuttgart nach Neu-Ulm am 22. Oktober 1983, in: Reinhold Weber (Hg.): Aufbruch, Protest und Provokation. Die bewegten 70er- und 80er-Jahre in Baden-Württemberg, Darmstadt 2013, S. 119-140.
  • Der Bildkorrespondent Udo Leuschner hielt die Menschenkette in Fotos fest.

/// Am 24. Oktober erscheint ein neues Kalenderblatt. Die Zeichen stehen auf Sturm!

Die „Wurmrebellion“ – Tausende protestieren für den abgesetzten Landesbischof Wurm

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19. Oktober 1934 | Zwei Polizisten standen vor seiner Tür, Tag und Nacht. Um ihn zu schützen? Nein, Theophil Wurm wurde seit dem 9. Oktober 1934 in „Schutzhaft“ gehalten, in seinem Fall eine Art Hausarrest. Was war sein Vergehen gewesen?

Nach dem Ersten Weltkrieg hatte sich der evangelische Pfarrer Wurm kurzzeitig in einem regionalem Ableger der völkischen DNVP engagiert und war dem neuen demokratischen Staat gegenüber sehr skeptisch geblieben. Das neue NS-Regime begrüßte der seit 1929 als württembergischer Kirchenpräsident waltende Wurm, nicht zuletzt dessen Kampf gegen den „gottlosen“ Marxismus fand seine Zustimmung.

Theophil Wurm Bildnachweis: Sammlung Weißhaupt, HdGBW
Theophil Wurm Bildnachweis: Sammlung Weißhaupt, HdGBW

Die evangelische Kirche im Reich begann sich rasch an der Haltung zu Hitlers Herrschaft zu entzweien. Zunächst war Theophil Wurm auf der Seite der „Deutschen Christen“ (D.C.), die sich Staatstreue und Deutschtum auf die Fahnen geschrieben hatten. Die stärker werdende Einmischung der Politik in Kirchenange-legenheiten trieb ihn in die Reihen der „Bekennenden Kirche“, der innerkirchlichen Opposition. Trotzdem versuchte sich der Landesbischof so gut wie möglich mit den Mächtigen zu arrangieren.

Dennoch wurde er in einer Art Putsch im Herbst 1934 von Anhängern der „Deutschen Christen“ in Württemberg seines Postens entbunden und festgesetzt. Das war zu viel: Am Sonntag, dem 21. Oktober, zogen zwischen 6.000 und 7.000 Personen nach dem Vormittagsgottesdienst zu Wurms Wohnhaus in der Stuttgarter Silberburgstraße 187. Sie sangen, sie beteten mit „ihrem“ Landesbischof. Jugendpfarrer Julius Eichler, Anhänger der „Bekennenden Kirche“, las aus der Bibel. Die Staatsmacht fühlte sich provoziert, wie Wurm zu berichten wusste:

„Er [Eichler] war mit der Verlesung noch nicht fertig, als zwei Schutzleute, von Hitlerjungen herbeigerufen, in die dichtgedrängte Menge eindrangen und mit erhobener blanker Waffe den Pfarrer herausholten […]. Den Pfuiruf, der da aufbrauste hätten Sie hören sollen! So will man wohl Neinsager gewinnen!“

 

Eichler wurde zur Polizeiwache gebracht, wohin sich auch die Proteste verlagerten. „Gebt unsere Pfarrer frei!“, skandierte die Menge nach der Verhaftung sechs weiterer Geistlicher. Die Politische Polizei, der Vorläufer der Gestapo, fotografiert die Menge für ihre Akten. Für Wilhelm Rehm, D.C.-Landesleiter Württemberg, war der wahre Urheber der „Wurmrebellion“ schnell ausgemacht: „Kommunistische und marxistische Kreise“, die „internationale Judenpresse“ und „staatsfeindliche Elemente“ – typische Phrasen der NS-Propaganda. Zwar wurde der Protest in der lokalen Presse totgeschwiegen, doch im Ausland fand das Ereignis ein solches Echo, dass sich Hitler genötigt sah, die Wiedereinsetzung Theophil Wurms als Landesbischof zu veranlassen.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • LEO-BW: Die Biografie Theophil Wurms
  • Joachim Botzenhardt: „Befreien Sie unserern Landesbischof aus seinem unwürdigen Hausarrest und Bewachung“, Blätter für Württembergische Kirchengeschichte (BWKG) Jg. 97 (1997) S. 129-155.
  • Landeskrichliches Archiv Stuttgart: Nachlass Wurm  (Bestand D 1), Aktenbunde Nr. 54 und 378.

/// Morgen geht es ums Ganze, um den Frieden. Bleiben Sie gespannt.

 

Kampf dem Preiswucher! (Teil 1) – eine Protestkundgebung in Mannheim

Ein Kommentar

20. Oktober 1948 | Es war einmal eine neue Währung. Über Nacht füllten sich die Geschäfte, und am nächsten Morgen staunten die Menschen über all die schönen Dinge, die ihnen solange gefehlt hatten. Da begannen sie sofort, alles zu kaufen. Sie kauften immer weiter – und auf einmal war das Wunder geschehen. Alle Menschen hatten Arbeit und dem Land ging es wieder gut.

 

So oder so ähnlich kennen wir alle die sagenhafte Erfolgsgeschichte von der Währungsreform, mit der am 20. Juni 1948 die alte Reichsmark durch die neue DM abgelöst wurde. Aber genau vier Monate nach der Einführung des neuen Geldes war es den Menschen in Mannheim noch nicht zum Feiern zu Mute. Rund 60.000 Arbeiterinnen und Arbeiter versammelten sich ab 8 Uhr morgens auf dem Marktplatz.

Sie gehörten erst einmal zu den Verlierern der Reform, die schönen Waren in den Schaufenstern blieben für sie unerreichbar, da viel zu teuer. Die Preise stiegen rasant, während die Löhne eingefroren blieben. „Kampf dem Preiswucher!“, „Wir fordern Mitbestimmung!“ oder „Weltmarktpreise – Weltmarktlöhne!“, lauteten entsprechend die Parolen. Karl Schweizer, der Vorsitzende der Mannheimer Gewerkschaften, verlangte eine Überwachung der Preise und kündigte ein Ende der Zurückhaltung bei den Lohnverhandlungen an.

Merke, die meisten Wunder sind nicht für alle immer wunderbar und manchmal brauchen sie eben doch ein bisschen länger.


/// Morgen besuchen wir einen weiteren Protestschauplatz. Bleiben Sie neugierig!

„Schweineglück“ – Die badischen Direktwahlen von 1905

Ein Kommentar

19. Oktober 1905 | Großblock gegen Zentrum. Nicht auf dem Fußballplatz, sondern an der Wahlurne entschied sich im Oktober 1905 dieses badische Heimspiel. Die wahlrechtlichen „Spielregeln“ waren im Vorjahr geändert worden: Statt über Wahlmänner konnten die Badener nun direkt entscheiden, wer sie als Abgeordnete in der Zweiten Kammer vertreten sollte.

Des Volkes Stimme | „Schweineglück“ – Die badischen Wahlen von 1905

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Am 19. Oktober war es soweit: Mit rund 42% gewann die katholische Zentrumspartei vor den Nationalliberalen (30%) und der SPD (17%). Die notwendige Stichwahl in einigen Wahlbezirken drohte für die unterlegenen Parteien zum Debakel zu werden und dem Zentrum die absolute Mehrheit einzubringen. In der Not fanden sich die Sozialdemokraten mit den Nationalliberalen, den Demokraten und den Freisinnigen zum Wahlbündnis „Großblock“ zusammen. Mit Erfolg: 24 Abgeordnetensitze konnten die beteiligten Parteien am 28. Oktober holen, sodass das Zentrum mit 28 Abgeordneten zwar stärkste Kraft, die Nationalliberalen (23 Sitze), die Demokraten (5), die Freisinnigen (1) und die SPD (12) jedoch gemeinsam die politischen Entscheidungen in der Zweiten Kammer maßgeblich bestimmen konnten. Eine Liebeshochzeit war es dennoch nicht: Immer wieder kam es zu Streit über das Landesbudget, und auch innerhalb der SPD brachen trotz der allgemeinen reformorientierten Haltung der badischen Genossinnen und Genossen vermehrt Flügelkämpfe aus. 1913 zerbrach die Zweckgemeinschaft endgültig.


Direkt gewählt: Die Zweite Kammer Badens 1905
Direkt gewählt: Die Zweite Kammer Badens 1905 (Graphik: HdGBW/Hemberger).

„Neue Heimat“ – eine Siedlung für Heimatvertriebene in Hettingen

Ein Kommentar

17. Oktober 1948 | Wohin nur mit all den Vertriebenen und Geflüchteten?

Wohin mit den Millionen Menschen, die nach dem Krieg ihre Heimat verloren hatten?

Wohin allein mit den rund 19.000 Deutschen aus Mähren, Böhmen oder der Slowakei, die 1946 der Landkreis Buchen (der selbst gerade einmal 50.000 Einwohner zählte) aufnehmen sollte?

Einquartierungen, Notunterkünfte, Scheunen – das alles konnte auch im 1.500 Seelen großen Hettingen bei Buchen nur eine kurzfristige Antwort sein. Es musste gebaut werden. Kurzerhand packte der katholische Ortspfarrer Heinrich Magnani die Sache selber an. Ende 1945 gründete er die „Notgemeinschaft Hettingen“ und tauschte Kirchengrundstücke gegen Ackerland, um eine neue Siedlung bauen zu können. Aber kein Bauen ohne Architekt. Und Magnani hatte Glück. Der aus Berlin nach Buchen (wo sein Vater herstammte) geflohene großartige Egon Eiermann brannte darauf, das Projekt zu verwirklichen. Mit umfassenden Eigenleistungen und der tatkräftigen Mithilfe vieler ehrenamtlicher Freiwilliger entstanden 22 Wohneinheiten, die sich sehen lassen konnten: einfach, aber modern, für die Zukunft gebaut.

Was am 17. Oktober 1948 feierlich eingeweiht wurde, lässt sich in der Adolf-Kolping-Straße 29 in Hettingen heute wieder besichtigen. Die Wüstenrot Stiftung finanzierte im Rahmen ihres Denkmalprogramms die Instandsetzung eines Hauses und die Einrichtung einer Dauerausstellung über die Siedlung, das Haus der Geschichte Baden-Württemberg konzipierte und realisierte zusammen mit den Architektinnen von büroberlin die Ausstellung.


Zum Weiterlesen und -forschen:

/// Das nächste Kalenderblatt folgt am 19. Oktober. Ein echter Wahlkrimi erwartet Sie!

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