„Denkmal in den Herzen“ – Die Erzberger-Gedenkfeier in Buttenhausen

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8. Mai 1927 | Unter „flotter Musik“ marschierten Reichsbannerleute aus Reutlingen und Ulm in das „sonst so stille Dörflein“ Buttenhausen ein, wie ein zeitgenössischer Beitrag im Münsinger „Alb-Boten“ nicht ohne Stolz verkündete. Ihr Ziel: Ein unscheinbares kleines Haus, in dessen vier Wänden eine zentrale Figur der jungen Weimarer Republik das Licht der Welt erblickt hatte. Am 20. September 1875 hineingeboren in einfache Verhältnisse, beschritt der Katholik Matthias Erzberger einen Lebensweg, der ihn politisch in die Reihen der Zentrumspartei führte,  die er ab 1903 im Reichstag als Abgeordneter vertrat. Erzberger eckte innerhalb seiner Fraktion des Öfteren an, beispielsweise wenn er Missstände in deutschen Afrikakolonien benannte. Zu Beginn des 1. Weltkriegs stimmte er in den Chor der Kriegsbefürworter ein, kam jedoch im Jahre 1916 zur Überzeugung, dass nur ein Verständigungsfrieden dem Deutschen Reich und den europäischen Staaten eine gerechte Zukunft werde sichern können.

Riesenandrang vor Erzbergers Geburtshaus bei der Gedenkveranstaltung des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold(Bildnachweis: Stadtarchiv Münsingen; Einfärbung.: HdG BW/Hemberger).
Riesenandrang vor Erzbergers Geburtshaus bei der Gedenkveranstaltung des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold (Bildnachweis: Stadtarchiv Münsingen; Einfärbung.: HdG BW/Hemberger).

Am 11. November 1918 setzte Erzberger im Eisenbahnwaggon bei Compiègne als Leiter der deutschen Delegation seine Unterschrift unter das Waffenstillstandsabkommen, und damit quasi unter sein eigenes Todesurteil. „Es gab kein Wort des Hasses und der Niedertracht, das ihm hierfür und später für seine Zustimmung zum Friedensvertrags erspart geblieben wäre“, erinnerte der Reutlinger Gemeinderat und Reichsbanner-Mitglied Hans Freytag in seiner Rede an Erzbergers Geburtshaus. Deutsch-völkische und rechtsradikale Gruppen schossen sich  auf den Republikaner ein, der ihnen als Vaterlandsverräter und Novemberverbrecher galt. Aus Worten wurden Patronen: In Bad Griesbach im Schwarzwald wurde Erzberger am 26. August 1921 ermordet, die rechtsextremistischen Täter konnten fliehen.

Die alte Gedenktafel an Matthias Erzbergers Geburtshaus in Buttenhausen (Aufnahme nach 1927).
Die alte Gedenktafel an Matthias Erzbergers Geburtshaus in Buttenhausen (Aufnahme nach 1927; Bildnachweis: HdGBW)

Mit der Enthüllung einer Gedenkplakette an Erzbergers Geburtshaus in Buttenhausen schuf der Reutlinger Ortsverband des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold (RB) mehr als einen einfachen Gedenkort. Das im Jahre 1924 gegründete Reichsbanner vereinte Mitglieder der SPD, der liberalen Deutsch-Demokratischen Partei und der katholischen Zentrums-partei zum gemeinsamen Schutz der Weimarer Republik und ihrer parlamentarischen Demokratie. Durch Gedenkfeiern, Fahnenappelle, Reden und einer demonstrativ gezeigten Geschlossenheit sollte der erstarkenden nationalsozialistischen Bewegung ein starkes Bollwerk entgegengesetzt werden. Erzberger würde heute in den Reihen des RB stehen, gab sich Freytag überzeugt und ein Vertreter der Zentrumspartei, Ortsgruppe Reutlingen, forderte neben dem Denkmal aus Erz, ein Denkmal in den Herzen aller. Die eiserne Gedenktafel wurde 1933 unter der Herrschaft Adolf Hitlers, der Erzberger bereits 1920 als „größten Lump“ verunglimpft hatte, abgehängt und in neuer Form erst 1971 wieder aufgehängt.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Erinnerungsstätte Matthias Erzberger: Homepage.
  • Haus der Geschichte Baden-Württemberg (Hrsg.):  Matthias Erzberger. Ein Wegbereiter der deutschen Demokratie. Buch zur Dauerausstellung der Erinnerungsstätte Matthias Erzberger in Münsingen-Buttenhausen, Stuttgart 2011.
  • Elena Müller: Demokratisches Gedenken: Die Erinnerung an Matthias Erzberger in Reutlingen, in: Reutlinger Geschichtsblätter 2018, Neue Folge Nr. 57, Reutlingen 2019, S. 175-199.

Liebe und Gerechtigkeit aus der Fabrik – Gustav Werner als Pionier der Sozialdiakonie

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7. Mai 1851 | „Die hießige Papierfabrik (…) stand seit zwei Jahren verlassen da, auf sie hatte ich schon längere Zeit mein Auge gerichtet; (…) Aber die steigende Noth in der Menschheit, die drohende Zukunft, die Mahnungen des Herrn drangen immer stärker auf mich ein, und ließen mir keine Ruhe; (…) am Pfingstmittwoch den 22. Mai schloß ich den Kauf rasch in einer frühen Morgenstunde ab, ohne auch nur meinen nächsten Freunden etwas davon zu sagen (…).“ (Gustav Werner in: „Der Friedensbote. Eine Zeitschrift für das Reich Gottes“, 1851, 2. Heft, S. 52-53).

Des Volkes Stimme | Liebe und Gerechtigkeit - Gustav Werners christliche Fabriken

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Werners Schilderungen, wie er im Morgengrauen vom Wanderprediger zum christlichen Fabrikbesitzer geworden war, gewähren nicht nur einen Einblick in das Seelenleben eines Einzelnen. Vielmehr spiegelt sich darin auch die Suche der Gesellschaft nach Antworten auf die „soziale Frage“. In Württemberg grassierten Hunger, Armut und Hoffnungslosigkeit in der Mitte des 19. Jahrhunderts besonders stark. Während in Baden Revolutionäre wie Hecker und das Ehepaar Struve tatkräftig für die Republik stritten und europaweit erste sozialistische Gruppierungen die Überwindung von Ungleichheit und Unterdrückung einforderten, wollte Gustav Werner seinen Mitmenschen einen gottgefälligen Weg zu Liebe und Gerechtigkeit ebnen. Er erkannte, dass Teilhabe an der Gesellschaft und individuelle Würde eng mit der eigenen Hände Arbeit verbunden ist.

Mit dem am 7. Mai 1851 in Reutlingen eingeweihten Bruderhaus, einer Hausgemeinschaft mit angeschlossener Papierfabrik, beabsichtigte er, das „Reich Gottes“ stückweise auf Erden erfahrbar zu machen. 130 Menschen fanden hier ihr Auskommen. Zugleich setzte Werner in der Frühphase voraus, dass sich die Arbeitenden als fromme Christenmenschen zeigten: „(…) ich weise auch fast immer Leute ab, welche bei mir Hilfe und Arbeit suchen und dabei vorwenden, daß sie meine Vorträge hören.“ (ebd., S. 74). Er persönlich erblickte in der Industrialisierung das Wirken Gottes und trieb die Expansion des Bruderhausvereins mit seinen „christlichen Fabriken“ energisch voran. Doch schon zwei Jahre später zeigten sich offensichtliche Probleme seines Modellversuchs: Die Fabrik war unrentabel, immer mehr Arbeitskräfte kamen von außen und waren nicht in der frommen Hausgemeinschaft organisiert. Der württembergische Staat musste im Jahre 1865 sogar Werners Unternehmen retten, doch nach der Ausgabe von Anteilsscheinen (Aktien) stellte sich eine relative Stabilität ein.

Besonders erwähnenswert ist der Umstand, dass Gustav Werner Menschen mit Behinderung, im damaligen Jargon „halbe Kräfte“ genannt, als selbstbewusste Arbeitskräfte ernst nahm und ihnen Arbeit gab. Die Gründung der „Gustav Werner-Stiftung zum Bruderhaus“ im Jahr 1882 setzte ein Ausrufungszeichen hinter die Idee der Integration von behinderten Menschen in den Alltag und wirkt bis heute fort.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • BruderhausDiakonie: Homepage der Stiftung Gustav Werner.
  • Hartmut Zweigle: „Herrschen mög‘ in unseren Kreise Liebe und Gerechtigkeit!“ Gustav Werner – Leben und Werk, Stuttgart 2009.

1968 auf oberschwäbisch – der „Venceremos“ erregt die Gemüter

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2. Mai 1969 | „Impotente Pauker“ kommen in den Genuss eines besonders günstigen Preises von 40 Pfennig: So stand es zumindest auf dem Cover der April/Mai-Ausgabe der Biberacher Schülerzeitung „Venceremos“ von 1969. Was dort auf dem Schulhof des örtlichen Wieland-Gymnasiums mit einer Auflage von 100 Exemplaren kursierte, war gedruckter Sprengstoff gegen die Werte und Moralvorstellungen der Elterngeneration. Mit der Losung „Durchstoßt das Sexualtabu“, einem kunstvoll gestalteten Penis und einem entspannt-nackten Teufelchen provozierten die jungen Herausgeber um Martin Heilig und Eckard (Ekke) Leupold von der Biberacher Außerparlamentarischen Opposition (APO) mit denkbar scharfen Mitteln. Um Skandale und neuartige Protestaktionen war die kleine, aber rührige APO in der oberschwäbischen Stadt nie verlegen gewesen. Gegründet im Zuge des Widerstandes gegen eine Wahlveranstaltung der neofaschistischen NPD im Frühjahr 1968, brachten die Mitglieder beispielsweise lautstark ihren Protest gegen Bundeskanzler Kurt Kiesinger und dessen Notstandsgesetze anlässlich seines Wahlkampfbesuchs am 22. April zu Gehör (und steckten dafür Prügel von anwesenden Biberacher Bürgern ein).

"Schweinkram, Pornografie" - so die Meinung zahlreicher erregter Bürgerinnen in Biberach im Jahre 1969 über die Schülerzeitung "Venceremos" (Bildnachweis: Stadtarchiv Biberach, Sig. L 16 Nr 6).
„Schweinkram, Pornografie“ – so die Meinung zahlreicher erregter BürgerInnen in Biberach im Jahre 1969 über die Schülerzeitung „Venceremos“ (Bildnachweis: Stadtarchiv Biberach, Sig. L 16 Nr 6).

Im Folgejahr wurde die örtliche Schülerschaft stärker als „revolutionäres Subjekt“ ins Auge gefasst: Der „Venceremos“ verband auf seinen hektografierten Seiten allgemeine Kapitalismuskritik mit Anprangerungen schulinterner Missstände, konservativer Lehrer und überholter Lehrmethoden. Das Echo auf die April/Mai-Ausgabe blieb jedoch beispielslos in der kurzen Geschichte des Blattes, wie der Historiker Frank Brunecker vom Museum Biberach nachzeichnete. Nach einer Anzeige kam es zu Hausdurchsuchungen bei den Verantwortlichen, der Elternbeirat verdammte das „pornographische“ Machwerk und die lokale Presse veröffentlichte wütende Artikel und Leserbriefe, die ein hartes Vorgehen gegen die „perversen Schweinereien einer Schülerclique“ forderten. Vor der Veröffentlichung hatte Ekke bereits fest mit einer Anzeige gerechnet, was ihm jedoch „scheißegal“ gewesen sei.

Die Fotografin Marga Schwoerbel dokumentierte lebhaft die Demo zum "Venceremos"-Prozess im Januar 1970 (Bildnachweis: Stadtarchiv Biberach, Sig. M 10.1 Nr. 4216, Aufnahme: Marga Schwoerbel).
Die Fotografin Marga Schwoerbel dokumentierte die bewegte Demo zum „Venceremos“-Prozess im Januar 1970 (Bildnachweis: Stadtarchiv Biberach, Sig. M 10.1 Nr. 4216, Aufnahme: Marga Schwoerbel).

Im Januar 1970 kam es zum sogenannten „Venceremos“-Prozess gegen Ekke, Oswald Schmid und Ulrich Weitz, nicht ohne vorherigen lautstarken Protest von APO-Mitgliedern und Sympathisanten am 13. Januar. Vor Gericht entgegnete der angeklagte Ulrich Weitz auf die Vorwürfe der Verbreitung pornografischer Schriften:

„Pornographie ist das, was die Bürger daheim in ihren Nachttischen haben, das ihnen Spaß macht (…) – nirgendwo in der Provinz hat man so viel Angst vor der APO wie hier in Biberach. Gewisse Leute haben also unsere Gefährlichkeit erkannt, und zwar nicht auf dem kriminellen, sondern dem politische Gebiet. Es ist ja ganz klar, dass wir genau das Gegenteil wollen von dem, was Pornographie ist. Wir sind eigentlich viel moralischer als diese Leute, moralischer im natürlichen Sinne.“ (zitiert nach Brunecker, 1968, S. 103f.)

Überraschend wurden die Angeklagten freigesprochen und der angedachte Schulverweis ebenso fallengelassen. Die Biberacher APO hatte über die „Spießermoral“ gesiegt, zugleich einer ihrer letzten Erfolge, denn die Bewegung zerbrach rasch.

(Wir danken dem Stadtarchiv Biberach sowie Frau Schwoerbel für die freundliche Bereitstellung des Archivmaterials).


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Frank Brunecker: 1968, Biberach 2018.
  • Haus der Geschichte Baden-Württemberg (Hrsg.): … Denn die Zeiten ändern sich. Die 60er Jahre in Baden-Württemberg, Stuttgart 2017.
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