„Wenn der Hahn kräht …“ – der Reutlinger Schulstreik gegen den NC-Erlass

Ein Kommentar

15. April 1970 | „Wenn der Hahn kräht, wachen die Schüler auf!“ Mit diesem Slogan überschrieb die Bezirks-Schülermitverantwortung (SMV) Tübingen-Reutlingen ein Flugblatt, das in den heißen Reutlinger Tagen des Protests von Hand zu Hand ging. Den Begriff „Klassenkampf“ hatten die Schülerinnen und Schüler der Reutlinger Gymnasien wörtlich genommen. Und sie waren nicht die einzigen:  In 40 Städten Baden-Württembergs forderte die junge Generation die Abschaffung des 1968 eingeführten Numerus Clausus, der Zugangsbeschränkung auf besonders gefragte Fächer. Damit nicht genug: Auch für eine prinzipiell bessere Bildungspolitik und mehr Mitspracherecht an den Schulen wurde gestreikt.

Aus Unterlagen des Isolde-Kurz-Gymnasiums (Reutlingen) geht hervor, dass die Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen 6 bis 9 zu 90 % für den Streik gestimmt hatten; 391 von 517 SchülerInnen der Jahrgangsstufen 4 bis 9 beteiligten sich schließlich an der Arbeitsniederlegung. So berichtete die „Südwestumschau“ am Donnerstag, den 16. April 1970: „In Reutlingen beteiligten sich fast 3.000 streikende Schüler an einem Demonstrationszug, bei dem auf Spruchbändern die Bevölkerung aufgefordert wurde, sich mit dem dreitägigen Streik (…) zu solidarisieren.“

 

Manche Eltern und Lehrer gingen diesem Aufruf nach und schlossen sich den Streikenden an. Auch am Friedrich-List-Gymnasium in Reutlingen wurden Hefte und Tafeln nicht genutzt. Die Klassentagebüchern blieben die Tage leer, nur ein Wort ist darin zu lesen: „Streik“.

Hauptangriffsziel der Schüler war der damalige Kultusminister Wilhelm Hahn. In einer Erklärung versprach der CDU-Politiker verschmitzt: „Geben Sie mir Geld und ich baue den Numerus Clausus sofort ab.“  Zwar sagte Hahn zu, das Anliegen der Streikenden an die Landesregierung weiterzugeben, doch lehnte er den Streik als Mittel der Mitbestimmung ab. Disziplinarische Maßnahmen für die Streikenden gab es hingegen keine, befürchteten doch die Verantwortlichen, dass dies dem Streik nur zusätzlichen Aufwind geben würde. Zudem stünde dies in keinem Verhältnis zum insgesamt friedlichen Verlauf.

 

Insgesamt beförderte der Streik die Kultur der Mitbestimmung und des kritischen Engagements der SchülerInnen, auch wenn das eigentliche Ziel verfehlt wurde, nämlich die Abschaffung des NC-Erlasses. Was einst als Notmaßnahme eingeführt worden war, behielt seine Gültigkeit bis zum heutigen Tage.

(In Zusammenarbeit mit Frau Clara Ebert, für deren umfassende Recherche und Co-Autorenschaft an dieser Stelle herzlich gedankt sei).


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Frieder Kernen: Streik der jungen Schwaben. Uber 10000 Schüler gingen auf die Straße, in: DIE ZEIT 24. April 1970 [online].
  • o.A.: Nicht mehr drin, in: DER SPIEGEL 20/1970 [online].
  • Stefan Paulus: „Konservativ und fortschriftllich zugleich“. Baden-Württembergische Bildungspolitik in den 1960er- und 1970er-Jahren, in: Philipp Gassert/Reinhold Weber (Hgg.): Filbinger, Wyhl und die RAF. Die Siebzigerjahre in Baden-Württemberg (= Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs, Bd. 42), Stuttgart 2015, S. 157-178.

/// Auch am 18. April wird auf dieser Seite wieder gestreikt. Zu Lesen wird es dennoch etwas geben.

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