Die schwäbische Vogelmutter – Lina Hähnle und der „Bund für Vogelschutz“

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23. Januar 1899 | „Viele Vögel, welche früher sehr häufig waren, sind selten geworden, aus einigen Gegenden ganz verschwunden.“ Diese erschreckend aktuell klingende Feststellung stammt nicht von der jüngsten Vogelzählung. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts brachte Lina Hähnle ihre tiefe Besorgnis über einen langfristigen dramatischen Rückgang der Vögel zum Ausdruck: „Seit Jahrzehnten macht sich eine rasche Abnahme unserer gefiederten Sänger in Wald und Feld mehr und mehr bemerkbar.“ In ihrem Aufruf für die Gründung eines „Bundes für Vogelschutz“ am 23. Januar 1899 machte Hähnle vor allem den Menschen verantwortlich dafür: die Beseitigung der Heckenlandschaften, die Nutzung der Vögel als Lebensmittel und nicht zuletzt die Ausbeutung durch die Modeindustrie, die für den Hutschmuck die Federn von Millionen von Vögeln tötete.

Ihr unwiderstehliches Charisma sowie die große Fähigkeit zu organisieren und tatkräftig anzupacken, machten Lina Hähnle zu einem Glücksfall für den Naturschutz. Zunächst führte sie 1898 die vielen lokalen Initiativen in Württemberg zum „Schwäbischen Bund der Vogelfreunde“ zusammen.

Sie wollte die bedrohten "gefiederten Sänger" schützen: Lina Hähnle (Bildnachweis: NABU-Archiv).
Sie wollte die bedrohten „gefiederten Sänger“ schützen: Lina Hähnle (Bildnachweis: NABU-Archiv; Bearbeitung: HdG BW).

Am 15. Dezember 1898 wurde der nächste Schritt beschlossen. Nach öster-reichischem Vorbild plante sie einen schlagkräftigen nationalen Verband: Am 1. Februar 1899 entstand in der Stuttgarter Liederhalle der angekündigte „Bund für Vogelschutz“. Der heutige „Naturschutzbund Deutschland“ (NABU) hat hier seine Anfänge.

Hähnles Netzwerke in Württemberg erleichterten ihr den Start. Die am 3. Februar 1851 in Sulz am Neckar geborene Hähnle gehörte zum Bürgertum. Ihr Mann Hans Hähnle, Filzfabrikant in Giengen an der Brenz, verfügte als langjähriger liberaler Reichstagsabgeordneter über vielfältige Kontakte zu Politik, Wirtschaft und Kirche. Zu den regelmäßigen Spendern für den Vogelschutzbund zählte zum Beispiel Robert Bosch, der aus dem nicht weit von Giengen entfernten Albeck stammte. Wichtige Impulse kamen auch von den im Tübinger Stift ausgebildeten evangelischen Theologen, die frühzeitig für die Bewahrung der göttlichen Schöpfung eintraten. Allein in Württemberg traten 1899 rund 3500 Mitglieder in den Bund ein. Der bewusst niedrig gehaltene Mitgliedsbeitrag ebnete den Weg zu einem breit in der Bevölkerung verankerten Verband.

Hähnle bewies nicht zuletzt im Umgang mit der Politik großes Geschick. Sie steuerte ihren Verband sehr anpassungsfähig fast 40 Jahre als Vorsitzende durch drei völlig verschiedene politische Systeme: das Kaiserreich, die Weimarer Republik und bis Ende 1937 auch durch die NS-Diktatur.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Hans-Werner Frohn/Jürgen Rosebrock (Hgg.): Spurensuche – Lina Hähnle und die demokratischen Wurzeln des Naturschutzes, Essen 2017.
  • Horst Hanemann/Jürgen M. Simon: Die Chronik eines Naturschutzverbandes von 1899-1984, Wiesbaden 1987.
  • Hansjörg Küster: Lina Hähnle in den Netzwerken Württembergs, in: Frohn/ Rosebrock (Hgg): Spurensuche – Lina Hähnle und die demokratischen Wurzeln des Naturschutzes, Essen 2017,  S. 57-66.
  • Anna-Katharina Wöbse: Lina Hähnle (1851-1941): Vogelschutz in drei Systemen, in: ebd., S. 35-56.

/// Am 28. Januar berichten wir über eine Petition, die der Staatsmacht missfiel. Bleiben Sie gespannt!

Erste Wahl (Teil 2) – die wilden 13 und das Frauenwahlrecht

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12. Januar 1919 | Genau einen Monat nach Verkündigung des Frauenwahlrechts folgte auch in Württemberg die Premiere für die Frauen. „In großen Mengen kamen sie, allein und mit ihren Männern“, beobachtete die „Schwäbische Chronik“ am 12. Januar 1919 die Wahlen zur Württembergischen Landesversammlung in Stuttgart und fügte gönnerhaft hinzu: „Man las ihnen meist das Bewusstsein eines großen Augenblicks von den Zügen; sie fanden sich im Ganzen alsbald in die einfachen Förmlichkeiten der Wahlhandlung und gaben gewichtig ihren blauen Wahlbrief ab, auf dessen Stempel noch das „K.(önigliche) Ministerium des Innern“ prangte.

Nicht nur die Herren von der Presse mussten sich erst an den neuen Anblick in den Wahllokalen gewöhnen. Für die meisten Frauen selbst kam die schnelle Gleichstellung eher überraschend. In Württemberg hatte es nicht gerade eine starke und drängende Frauenbewegung gegeben. Erst kurz vor dem Krieg waren in Stuttgart, Ulm und Tübingen Ortsgruppen des „Württembergischen Vereins für das Frauenstimmrecht“ entstanden. Die meisten Frauen schienen sich mit einer stärkeren Beteiligung auf kommunaler Ebene zufrieden zu geben. Entsprechend bescheiden waren auch jetzt die Frauen auf den Wahllisten der Parteien vertreten. Gerade einmal 13 von 150 Sitzen in der verfassunggebenden Landesversammlung wurden an Frauen vergeben.

Aber in dieser 13er Gruppe befanden sich dafür höchst bemerkenswerte Politikerinnen. Die aus bester Familie stammende Zentrumsabgeordnete Amelié von Soden gehörte ebenso dazu wie die Sozialistin Clara Zetkin.

Herausragend waren auch die beiden Gründungsmitglieder der neuen liberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP), Mathilde Planck und Thekla Kauffmann, die sich beide bereits seit längerem für ein wirklich „allgemeines“ Wahlrecht eingesetzt hatten. Die 1861 in Ulm geborene Planck galt als eine der renommiertesten Köpfe der Frauen- und Friedensbewegung im Südwesten. In den 1920er Jahren engagierte sie sich zusätzlich bei der von ihr mitgegründeten Bausparkasse Wüstenrot.

Die am 18. Januar 1883 in Stuttgart zur Welt gekommene Thekla Kauffmann war die einzige jüdische Abgeordnete der Landesversammlung. Die Cousine von Otto Hirsch, maßgeblicher Mann beim Ausbau des Neckars und in der NS-Zeit heldenhafter Vorstand der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, blieb in der Frauenfrage aktiv. Im Juni 1920 vertrat sie Deutschland auf dem achten Kongress der „International Woman Suffrage Alliance“ in Genf, wo weiter für das Wahlrecht der Frauen gekämpft wurde. Nach dem Ausscheiden aus dem Parlament 1920 übernahm sie eine Abteilungsleitung im Landesarbeitsamt. Nach 1933 versuchte sie verzweifelt, jüdische Emigrantinnen und Emigranten zu unterstützen. Sie selbst konnte im April 1941 von Lissabon nach New York entkommen.


Zum Weiterlesen und -forschen:

/// Eine Politikerin spricht offen und frei. Mehr hierzu in unserem nächsten Kalendereintrag am 15. Januar.

Erste Wahl (Teil 1) – Maria Anna Beyerle und das Frauenwahlrecht

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5. Januar 1919 | Auch beim Frauenwahlrecht war Baden wieder ganz vorne. Na ja, fast. Wir wollen die Kleinen im Norden nicht völlig vergessen. Die beiden Freistaaten Mecklenburg-Strelitz und Braunschweig (die es wirklich gab!) ließen ihre Frauen bei den Wahlen am 15. und 22. Dezember 1918 noch einen Tick schneller mitmachen. In Baden wurde erst am 5. Januar 1919 die Badische Nationalversammlung gewählt, die dem Land nach der Novemberrevolution und der Abdankung des Großherzogs eine neue Verfassung geben sollte. Erstmals durften die Frauen auf Landesebene wählen. Als eines der ersten Ergebnisse der Revolution hatte in Berlin der Rat der Volksbeauftragten am 12. November 1918 das Frauenwahlrecht verfügt: „Alle Wahlen zu öffentlichen Körperschaften sind fortan nach dem gleichen, geheimen, direkten, allgemeinen Wahlrecht auf Grund des proportionalen Wahlsystem für alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen zu vollziehen.“

In Baden machten die Frauen eifrig Gebrauch davon. Die hohe Gesamtwahlbeteiligung von 88 % der Wahlberechtigten verdankte sich wesentlich ihnen. Die Premiere des aktiven Wahlrechts gelang also eindrucksvoll – beim passiven Wahlrecht sah es hingegen schon damals nicht so gut aus. Von den 107 Abgeordneten waren gerade einmal neun weiblich. Die katholische Zentrumspartei und die Sozialdemokraten hatten jeweils vier Parlamentarierinnen in ihren Reihen, die liberale Deutsche Demokratische Partei (DDP), mit immerhin 22 % der Stimmen, entsandte nur eine einzige Frau.

Marianne Bayerle
Maria Anna Bayerle (Bildnachweis: Generallandesarchiv Karlsruhe 231 Nr. 2937 (833); bearb.: HdGBW)

Eine dieser Pionierinnen war Maria Anna Beyerle. Die 1882 in Konstanz geborene Lehrerin hatte sich führend bei karitativen Organisationen und beim Verein Katholischer Deutscher Lehrerinnen engagiert und dabei genügend Erfahrungen für eine politische Karriere gesammelt. Als Zentrums-Abgeordnete für den Wahlkreis Konstanz widmete sie sich in der verfassung-gebenden Versammlung und später im Badischen Landtag vor allem bildungs- und sozialpolitischen Themen. Sie schied 1928 aus dem Landtag, um höhere Funktionen an verschiedenen Schulen in Karlsruhe, Freiburg und Konstanz übernehmen zu können. Nach dem Zweiten Weltkrieg zählte sie in Konstanz zu den Gründungsmitgliedern der Badisch Christlich-Sozialen Volkspartei (BCSV), dem Vorläufer der CDU in Südbaden. Von 1947 bis 1952 gehörte sie dem Badischen Landtag in Freiburg an – als einzige Frau in ihrer Fraktion.


Zum Weiterlesen und -forschen:

Ein Roter in der „Schwarzen Zunft“ – Heinrich Dietz gründet seinen Verlag in Stuttgart

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31. Dezember 1881 | Johann Heinrich Wilhelm Dietz war ein Meister der „Schwarzen Zunft“. Doch nicht in dunklen Alchemielaboren und Hexerküchen arbeitete er,  sondern umgeben von modernen Druckpressen, Setzkästen und bestens vernetzt mit wichtigen VordenkerInnen der deutschen Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts. Als gelernter Schriftsetzer fand er schnell Anschluss an das erstarkende Gewerkschaftswesen und trat um 1875 der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands, der späteren SPD, bei.

Des Volkes Stimme | Ein Roter in der „Schwarzen Zunft“ - Heinrich Dietz gründet seinen Verlag

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1878 erfolgte Bismarks Schlag gegen die Sozialdemokraten: Mit den „Sozialistengesetzen“ wurde die Parteiarbeit illegal , Kreativität war gefragt. Als 1880 die örtlichen Behörden eine bedeutsame Parteidruckerei in Leipzig schließen wollten, sprang der Sozialdemokrat Carl Höchberg in die Bresche, übernahm als Privatmann zum Schein den Betrieb und war umgehend gezwungen, seine Zelte in Stuttgart neu aufzuschlagen. In Württemberg war die Handhabung der „Sozialistengesetze“ weit weniger streng. Mit im Gepäck war auch Heinrich Dietz, der schlussendlich am 31. Dezember 1881 den J.H.W. Dietz-Verlag in das Stuttgarter Handelsregister eintragen lies.

Die eigentliche Arbeit begann für Dietz erst jetzt: Als sozialistischer Unternehmer musste er die Finanzen genauso im Auge haben wie die „niedliche Polizeiwirtschaft“ (Zitat Franz Mehring) in Württemberg, die mit der Beschlagnahme eines frühen Bestsellers, des „Omnibus-Kalenders“ den jungen Verlag in der Substanz bedrohte. Das Sortiment blieb im ersten Jahr bescheiden, doch schon in den darauffolgenden rotierten die Druckmaschinen immer schneller. Die Theoriezeitschrift „Die Neue Zeit“ bot ab 1882 eine Plattform für den wissenschaftlichen Sozialismus, Klassiker wie Karl Marx‘ Werk „Das Elend der Philosophie“, Wilhelm Liebknechts „Volks-Wörterbuch“ oder Karl Kautskys „Karl Marx‘ Ökonomische Lehren“ brachten Wissen unter lese- und wissenshungrige ArbeiterInnen im ganzen Deutschen Reich. Ganz im Sinne des in der Arbeiterbewegung verbreiteten Bonmots Sir Francis Bacons „Wissen ist Macht!“ Und kein Witz: Die gesellschaftskritische Satirezeitschrift „Der Wahre Jacob“ ermöglichte dem Dietz-Verlag mit ihren guten Verkaufszahlen so manche trostlose Zeit zu überstehen.


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/// Mit Frauenpower starten wir ins neue Jahr! Den nächsten Eintrag lesen Sie am 5. Januar.

1918, der Südwesten erhebt sich (Teil 4) – Badens provisorische Regierung

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 10. November 1918 | Stuttgart und Friedrichshafen hatten stark vorgelegt: Mit Generalstreik und der frühen Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten am 4./5. November stand Württemberg in erster Reihe des revolutionären Geschehens von 1918. Verschlief Baden die Veränderungen? Natürlich nicht: Am 8. November fanden sich in den badischen Garnisonsstädten Lahr und Offenburg erste Soldaten in Räten zusammen; über den Rüstungswerken in Karlsruhe hatten Arbeiter rote Fahnen gehisst. Kern der Krise, in der „das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann“ (Antonio Gramsci) war die Frage, welche Institution in Zukunft die Regierungsmacht ausüben darf und wer sie dazu berechtigt.

Zwei Tage darauf wurde eine doppelte Lösung auf die Frage gefunden. Der Arbeiter- und Soldatenrat Mannheim rief die „Sozialistische Republik Baden“ aus. Weiter in Süden wandte sich der Karlsruher Soldaten- und Arbeiterrat (SAR) an die Bevölkerung der badischen Residenzstadt:

„Eine neue Zeit der Freiheit ist angebrochen. Lasst uns ihrer würdig sein. […] Haltet zu ihm [dem SAR], vertraut ihm. Sorgt selbst für Ruhe und Ordnung, die unbedingt im Interesse der Allgemeinheit gewahrt werden muss.“

Bei Gewalttätigkeiten wurden standrechtliche Erschießungen angedroht. So weit kam es aber nicht: Dass die Revolution im Südwesten weitgehend friedlich verlief, liegt auch in der historisch gemäßigten Einstellung der Sozialdemokraten begründet, die in Baden ab 1905 eng mit den Liberalen zusammengearbeitet hatten und 1918 einen erheblichen Teil der Mitglieder in lokalen Räten stellten. Radikale Kräfte wie die Unabhängige Sozialdemokratische Partei (USPD) hatten es schwer, ihrer Meinung Gehör zu verschaffen.

Die vorläufige Volksregierung Badens nimmt Platz (Generallandesarchiv Karlsruhe, Nachlaß Geis, Nr. 1)
Die vorläufige Volksregierung Badens nimmt Platz (Generallandesarchiv Karlsruhe, Nachlaß Geis, Nr. 1)

In Karlsruhe arbeiteten SAR und Wohlfahrtsausschuss, ein Zusammenschluss verschiedener Parteien, eng zusammen und fanden sich am 10. November zu einer provisorischen Regierung zusammen. Vorsitzender wurde der SPD-Mann Anton Geiß. Großherzog Friedrich II. von Baden blieb nichts anderes übrig, als ohnmächtig zu akzeptieren, was er nicht mehr ändern konnte. Fünf Sozialdemokraten, zwei USPD-Mitglieder, zwei Zentrums-Mitglieder sowie jeweils ein Mitglied der Fortschrittlichen Volkspartei und der Nationalliberalen Partei stellten die Minister. Schon in ihrer ersten Bekanntmachung kündigten sie an, das Volk über die zukünftige Staatsform, Monarchie oder Republik, abstimmen zu lassen.

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Am Folgetag forderte der eigenmächtig handelnde Matrose Heinrich Klumpp den „größten Lump von Baden“, Großherzog Friedrich II., zum Thronverzicht auf und feuerte mit einigen Begleitern auf die Fassade des Karlsruher Schlosses. Eingeschüchtert verließ der Monarch die Stadt, auf den Thron verzichtete er aber erst am 22. November.

Parlamentarische Republik oder Räterepublik: Diese Frage sollte nicht nur in Baden die kommenden Monate beherrschen.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Martin Furtwängler (Bearb.): Die Protokolle der Regierung der Republik Baden, Bd. 1: Die provisorische Regierung November 1918 – März 1919 (= Kabinettsprotokolle von Baden und Württemberg 1918-1933 Teil I, Bd. 1), Stuttgart 2012.
  • Markus Schmidgall: Die Revolution 1918/19 in Baden, Karlsruher 2012 [Digitalisat des KIT].

/// Morgen steht ein gewichtiges „Nein“ im Mittelpunkt!

1918, der Südwesten erhebt sich (Teil 3) – Karl Fraaß und die Revolution

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9. November 1918  | Revolution in Stuttgart! Für den 18-jährigen Karl Fraaß ging am 9. November 1918 ein Traum in Erfüllung. Begeistert schrieb der aus Wannweil stammende Elektromonteur in sein Tagebuch auf, wie er mitten im Geschehen war.  Als „Spartakist“ zählte er sich zum linken Flügel der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD), die sich wegen ihrer Ablehnung des Krieges von der SPD abgespalten hatte. Fraaß wollte eine sozialistische Räterepublik verwirklichen, in der die Arbeiterinnen und Arbeiter bestimmen sollten.

Tatsächlich wehte am 9. November 1918 eine rote Fahne über dem Wilhelmspalais, dem Wohnsitz von König Wilhelm II.. Selbst in Württemberg hatte der populäre König keine Zukunft mehr, auch wenn sich seine Abdankung noch bis zum 30. November hinauszögerte. Aber für eine „sozialistische Republik“ gab es deswegen noch lange keine Chance. Im liberal-konservativ geprägten Württemberg bekannte sich die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung zu einer umfassende Beteiligung aller Bevölkerungsschichten und lehnte einen radikalen Bruch ab.

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Fraaß musste dies schnell enttäuscht feststellen. Bereits am 20. November notierte er: „Die Revolution wird von den Blauen Schritt für Schritt verraten auf den Schlossplatz werden schwarz-weiß-rote Fahnen u. Wimpeln aufgehängt um den heimkehrenden Truppen etwas zu bieten u. diese marschieren in voller Ausrüstung samt Stahlhelm ein. O Revolution, ich beklage deinen frühen Fall. O Tage der Freiheit wo seid ihr geblieben?“ Fraaß wollte dies nicht akzeptieren und kämpfte mit der Waffe in der Hand am 9. Januar 1919 für „seine“ Republik, als er an der Tagblattturm-Besetzung in Stuttgart teilnahm. Vergebens!

Auch nach der Revolution blieb das Leben von Fraaß mehr als spannend. Er trat der neuen KPD bei und hoffte noch immer auf die „richtige“ Revolution. Nachdem er 1930 arbeitslos geworden war, reiste er zweimal in die Sowjetunion. Im März 1933 rettete er sich vor den Nationalsozialisten in die Schweiz. Im Exil in der Schweiz begann seine Ernüchterung über den Kommunismus. Die Schweiz schob ihn 1940 nach Deutschland ab. Als Mitglied der Organisation Todt kam Fraaß an die Ostfront und musste bis 1944 Kriegsdienst leisten. Ab 1946 baute er den Behrendt-Verlag in Stuttgart auf und gründete die Buchgemeinschaft „Stuttgarter Bücherfreunde“. Politisch überzeugten ihn nun vor allem Theodor Heuss und dessen liberale Demokratische Volkspartei (DVP). Fraaß starb 1962.


Zum Weiterlesen und -forschen:

/// Morgen stellt sich in unserem OnlineKalender die Machtfrage. Blieben Sie neugierig!

1918, der Südwesten erhebt sich (Teil 2) – der irrtümliche Generalstreik

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4. November 1918 | Vielleicht war es ein Anflug revolutionärer Ungeduld, als der Stuttgarter Delegierte Ferdinand Hoschka die Sitzung der revolutionären Betriebsobleute in Berlin vorzeitig verließ. Sonst hätte er bei seiner Rückkehr nach Stuttgart den Genossen um Fritz Rück nicht irrtümlicherweise mitgeteilt, dass ein reichsweiter Generalstreik für den 4. November 1918 vorgesehen war. Sofort ließ Rück Flugblätter drucken und traf Vertrauensleute aus verschiedenen Stuttgarter Betrieben. „Unsere Flugblätter haben eingeschlagen, aber in der Sitzung der Betriebsvertreter wandten sich einige Sozialdemokraten und Gewerkschafter scharf gegen den Streik“, erklärte zwar ein Vertrauensmann bei Daimler dem wartenden Rück am morgen des 4. November. Doch es gab kein Halten mehr: Tausende Arbeiterinnen und Arbeiter zogen durch den Stuttgarter Osten und trafen auf einen zweiten Zug der Cannstatter Schuharbeiter.

„In dem Zuge, der etwa 10-12.000 Personen umfasste, sah man vorwiegend junge Burschen und Arbeiterinnen […]. Die Leute an der Spitze schrien und brachten Hochrufe auf die sozialistische Republik aus“,

beschreibt der damalige württembergische Staatsminister des Inneren, Ludwig Köhler, die Szene. Vorbei am Wilhelmspalais, dem Wohnsitz von König Wilhelm II., zog die Masse zum naheliegenden Schlossplatz, versäumte es jedoch nicht, dem Hausherrn ein „Hoch auf die Republik“ entgegen zu schmettern. In einer Rede forderte Fritz Rück die Abdankung aller deutschen Monarchen. Fortan sollten Arbeiter- und Soldatenräte demokratisch über das Geschick des Landes entscheiden.

Schließlich kam es zum Showdown zwischen den Revolutionären und der Staatsmacht im Innenministerium. Schnell war klar, dass es keine Einigung geben konnte.  „S’ischt aber wäge dem Sischtem!“, konterte Karl Seeberger den Hinweis des Innenministers, dass der König in Württemberg doch immer vorbildlich konstitutionell regiert habe. Nach weiteren Protestzügen und Ansprachen endete die Demonstration um 16.30 Uhr.

Die Rote Fahne vom 5. November 1918 (Bildnachweis: Hauptstaatsarchiv Stuttgart P 2 Bü 12)
Die Rote Fahne vom 5. November 1918 (Bildnachweis: Hauptstaatsarchiv Stuttgart P 2 Bü 12).

Zwei Stunden später trat der Arbeiter- und Soldatenrat Württembergs mit Rück als Vorsitzenden zum ersten Mal im Gewerkschaftshaus zusammen. Dessen Forderungen wurden in einer neuen Zeitung, der „Roten Fahne“, abgedruckt. Die Ernüchterung war groß, als am Folgetag klar wurde, dass nur in Stuttgart gestreikt worden war. Noch hielt Friedrichshafen die Streikfahne hoch, was Rück und August Thalheimer veranlasste, zu den rund 5.000 Demonstrierenden zu fahren. Noch im Zug wurden sie verhaftet. Den Zug der Zeit konnten die Polizeibeamten allerdings nicht mehr anhalten.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Sylvia Neuschl: Geschichte der USPD in Württemberg, oder: Über die Unmöglichkeit einig zu bleiben, Esslingen 1983, S. 157-163.
  • Ludwig Köhler: Zur Geschichte der Revolution in Württemberg. Ein Bericht, Stuttgart 1930.
  • Die Erinnerungen Fritz Rücks an die Revolution im Südwesten, vgl. Fritz Rück: Schriften zur deutschen Novemberrevolution (=Beiträge zur Geschichte des Sozialismus und der sozialen Bewegung in Süddeutschland, Bd. II), hrsg. von Ulrich Cassel/u.a., Stuttgart 1978.
  • Elisabeth Benz: Ein halbes Leben für die Revolution. Fritz Rück (1895 – 1959). Eine politische Biografie, Essen 2014.
  • Haus der Geschichte Baden-Württemberg (Hg.): Vertrauensfragen. Der Anfang der Demokratie im Südwesten, 1918 – 1924. Katalog zur Großen Landesausstellung, Haus der Geschichte Baden-Württemberg, 30. September 2018 bis 11. August 2019, Stuttgart 2018.

/// Der nächste Eintrag folgt am 9. November.

Premiere in Mannheim – die erste Vorlesung einer Frau

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29. Oktober 1908 | Die besten Überraschungen kommen immer am Ende. Die LeserInnen des Mannheimer General-Anzeigers vom 26. September 1908 staunten nicht schlecht, als sie die letzten Zeilen der Ankündigung der öffentlichen Vorlesungen im Wintersemester an der Mannheimer Handelshochschule lasen: „Und die erste von einer weiblichen Dozentin in einer deutschen Hochschule abgehaltene Vorlesung der Frau Altmann-Gottheiner über die Arbeiterinnenfrage, donnerstags.“

Im Vorlesungsverzeichnis der Handelsschule Mannheim steht es schwarz auf weiß: Frau Dr. Altmann-Gottheiner lehrt.
Im Vorlesungsverzeichnis der Handelsschule Mannheim steht es schwarz auf weiß: Frau Dr. Altmann-Gottheiner lehrt. (Bildnachweis: Universitätsarchiv Mannheim)

Am 29. Oktober 1908 war es um 19 Uhr soweit. Im Auditorium der Handelshochschule trat eine Frau an das Katheder, um ihre Vorlesung zu halten. Nicht weniger als 61 Jahre nachdem Louise Dittmar ebenfalls in Mannheim im ersten öffentlichen Vortrag einer Frau über die Gleichberechtigung gesprochen hatte, vollzog Dr. Elisabeth Altmann-Gottheiner einen weiteren großen Schritt in Richtung Emanzipation der Geschlechter. Das Thema ihrer Lesung sprach für sich.

Frau Dr. Altmann-Gottheiner (Bildnachweis: Universitätsarchiv Mannheim)
Frau Dr. Altmann-Gottheiner (Bildnachweis: Universitätsarchiv Mannheim)

Elisabeth Gottheiner war am 26. März 1874 in Berlin geboren worden. Da in Deutschland die Beschränkungen für Frauen allgegenwärtig waren, ging sie zum Studium der National-Ökonomie nach London und Zürich, wo sie 1902 promovierte. In Frankfurt am Main setzte sie sich aktiv für die Frauenbewegung ein, bevor ihr Ehemann Sally Altmann einen Lehrauftrag in Mannheim erhielt. Sie selbst wurde als „Lehrkraft für einzelne Vorlesungen“ angestellt. Ihren wissenschaftlichen Schwerpunkt setzte sie fortan bei Themen der Frauen- und Sozialpolitik. Auch nach dem Krieg blieb sie in Mannheim und etablierte sich endgültig an der Hochschule. Am 30. April 1925 wurde sie zur Professorin ernannt. Nur fünf Jahre später verstarb sie.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Isabel Funke: Frauenbildung im Kaiserreich. Elisabeth Altmann-Gottheiner im Kontext ihrer Zeit, Bachelorarbeit an der Universität Mannheim, 2014.
  • Rosmarie Günther: Eine vorbildliche Netzwerkerin – Elisabeth Altmann-Gottheiner (1874-1930), in: Mannheimer Geschichtsblätter remmagazin 20/2010, S. 21-34.
  • LEO-BW: Lebenslauf von Elisabeth Altmann-Gottheiner.

/// Am 31. Oktober wird es laut. Doch keine Angst: Bürgerinnen und Bürger wehrten sich!

1918, der Südwesten erhebt sich (Teil 1) – Fritz Rück spricht Klartext

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24. Oktober 1918 | Deutschland im Oktober 1918: Hunger und Krieg und keine Aussicht auf Besserung. Im Gegenteil: Die Arbeiter der Zeppelinwerft in Friedrichshafen waren zu einem „Vaterländischen Erbauungsabend“ geladen, auf dem der SPD-Abgeordnete Paul Lensch seine Durchhalteparolen verbreiten wollte. Nicht eingeladen, dennoch anwesend war ein gewisser Fritz Rück aus Stuttgart. Mit seinen kritischen Einwürfen brachte er den Redner aus dem Konzept und den Saal zum Kochen, ein „Orkan von Beifall“ erhob sich. Rück war 1917 Mitglied der Spartakus-Gruppe geworden und führte ab Oktober 1917 die USPD in Württemberg, eine SPD-Abspaltung, die sich gegen die Fortsetzung des Krieges stark machte.

Demonstration Ende Oktober 1918 in Friedrichshafen (Bildnachweis: Kreisarchiv Bodenseekreis).
Demonstration Ende Oktober 1918 in Friedrichshafen (Bildnachweis: Kreisarchiv Bodenseekreis).

Dasitzen und abnicken, das war nicht sein Stil. So forderte Rück vom Redeleiter eine freie Aussprache nach dem Referat. „‚Hier gibt es keine Aussprache‘, fauchte der Oberingenieur. ‚Dann gehen wir!‘“, antwortete das Publikum. Ein Teil der Versammlung schritt durch die Tür und mit der Arbeitermarseillaise auf den Lippen zogen sie durch die dunklen Friedrichshafener Straßen. Auf dem Marktplatz redete nun Fritz Rück zu 400 Menschen: „Vom Rande eines Brunnentrogs aus entwickelte ich die Grundzüge des revolutionären Programms“, schreibt er in einer zeitnah erschienenen Erinnerungsschrift. Nieder mit dem Krieg, hoch die sozialistische Republik, so zwei Kernforderungen. Was zwei Tage vorher mit den Demonstrationen der Maybach-Arbeiter in Friedrichshafen begonnen hatte, nahm nun weiter Fahrt auf. Noch vor dem Aufstand der Kieler Matrosen Anfang November setzte die Arbeiterschaft im äußersten Südwesten ein Signal gegen Krieg und für die Revolution.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Die Erinnerungen Fritz Rücks an die Revolution im Südwesten, vgl. Fritz Rück: Schriften zur deutschen Novemberrevolution (=Beiträge zur Geschichte des Sozialismus und der sozialen Bewegung in Süddeutschland, Bd. II), hrsg. von Ulrich Cassel/u.a., Stuttgart 1978.
  • Elisabeth Benz: Ein halbes Leben für die Revolution. Fritz Rück (1895 – 1959). Eine politische Biografie, Essen 2014.
  • Haus der Geschichte Baden-Württemberg (Hg.): Vertrauensfragen. Der Anfang der Demokratie im Südwesten, 1918 – 1924. Katalog zur Großen Landesausstellung, Haus der Geschichte Baden-Württemberg, 30. September 2018 bis 11. August 2019, Stuttgart 2018.

/// Am 26. Oktober erscheint ein neues Kalenderblatt. Wieder geht es um einen Bahnhof, der die Gemüter erhitzt.

„Schweineglück“ – Die badischen Direktwahlen von 1905

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19. Oktober 1905 | Großblock gegen Zentrum. Nicht auf dem Fußballplatz, sondern an der Wahlurne entschied sich im Oktober 1905 dieses badische Heimspiel. Die wahlrechtlichen „Spielregeln“ waren im Vorjahr geändert worden: Statt über Wahlmänner konnten die Badener nun direkt entscheiden, wer sie als Abgeordnete in der Zweiten Kammer vertreten sollte.

Des Volkes Stimme | „Schweineglück“ – Die badischen Wahlen von 1905

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Am 19. Oktober war es soweit: Mit rund 42% gewann die katholische Zentrumspartei vor den Nationalliberalen (30%) und der SPD (17%). Die notwendige Stichwahl in einigen Wahlbezirken drohte für die unterlegenen Parteien zum Debakel zu werden und dem Zentrum die absolute Mehrheit einzubringen. In der Not fanden sich die Sozialdemokraten mit den Nationalliberalen, den Demokraten und den Freisinnigen zum Wahlbündnis „Großblock“ zusammen. Mit Erfolg: 24 Abgeordnetensitze konnten die beteiligten Parteien am 28. Oktober holen, sodass das Zentrum mit 28 Abgeordneten zwar stärkste Kraft, die Nationalliberalen (23 Sitze), die Demokraten (5), die Freisinnigen (1) und die SPD (12) jedoch gemeinsam die politischen Entscheidungen in der Zweiten Kammer maßgeblich bestimmen konnten. Eine Liebeshochzeit war es dennoch nicht: Immer wieder kam es zu Streit über das Landesbudget, und auch innerhalb der SPD brachen trotz der allgemeinen reformorientierten Haltung der badischen Genossinnen und Genossen vermehrt Flügelkämpfe aus. 1913 zerbrach die Zweckgemeinschaft endgültig.


Direkt gewählt: Die Zweite Kammer Badens 1905
Direkt gewählt: Die Zweite Kammer Badens 1905 (Graphik: HdGBW/Hemberger).
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