Straße, endlose Straße – Der Vagabundenkongress 1929 in Stuttgart

Ein Kommentar

21. Mai 1929 | Ein „umherschweifender Rebell, ein revolutionärer Wanderagitator der Brüderlichkeit in den Pennen und Asylen Europas“ sei der „Kunde“ (eine alte Selbstbezeichnung der Landfahrer und Vagabunden). So formulierte es der anarchistische, später kommunistische Aktivist Gregor Gog auf dem ersten Internationalen Vagabundenkongress in Stuttgart im Jahre 1929.  Über 500 „Kunden“ folgten seinem Ruf und fanden sich vom 21. bis 23. Mai 1929 im Freidenker-Jugendgarten an der Kunsthochschule auf dem Stuttgarter Killesberg ein. Für drei Tage war hier die Hauptstadt des „Vagabundischen“: In ihren Reden griffen politisch aktive Kunstschaffende wie Alfons Paquet, Hans Tombrock und Heinrich Lersch ebenso wie der libertäre Kommunist Rudolf Geist oder der Pfarrer Jakob Weidemann das herrschende Gesellschaftssystem an.

Georg Gog brachte eine eigene „Zeit- und Streitschrift“ für die Tippelbrüder heraus: „Der Kunde“.

Neben der Möglichkeit, einen sicheren Ort für Geselligkeit und Austausch bereitzustellen, ging es den Veranstaltern auch darum zu zeigen, wie vielfältig die im Schoße der Vagabundenbewegung erwachsene Kunst war: Mit einer eigenen Kunstausstellung und einer durch behördliche Eingriffe zensierten Rundfunksendung erreichten die Aktiven ein großes Publikum, nicht immer zur Freude der damaligen Stadtverwaltung. Diese versuchte, das Ereignis möglichst geräuschlos passieren zu lassen. Entgegen dieser Hoffnung strömten zahlreiche Pressevertreter auf den Killesberg, um sich ein möglichst exotisches und romantisierendes Bild der Versammelten zu machen. Doch Aktivisten wie Gregor Gog, der als Bewohner einer selbstgezimmerten Hütte vor den Toren Stuttgart bereits selber reichlich exotisch wirkte, wussten es besser: Obdach- und Arbeitslosigkeit waren schwere Bürden der rund 100.000 Menschen auf der Straße, von denen sich nur ein kleiner Teil bewusst und freiwillig zu diesem Lebensstil entschieden hatte.

Die linke Arbeiter-Illustrierte Zeitung (AIZ) berichtete in Ausgabe 23/1929 halb solidarisch, halb kritisch über das Stuttgarter Ereignis (Bildnachweis: HdGBW).

Bereits im Jahre 1927 nahm Gog den Kampf gegen die „Vereinsamung“ der Vagabunden auf, gründete die „Bruderschaft der Vagabunden“, veröffentlichte die „Zeit- und Streitschrift“ „Der Kunde“ und leitete einen eigenen „Verlag der Vagabunden“. In dem wurde unter anderem Otto Zieses Gedichtband „Straße – endlose Straße“ veröffentlicht. Vagabundentum, das sei ein lebenslanger Generalstreik, mit der die „kapitalistische, ,christliche‘, kerkerbauende Gesellschaft ins Wackeln, ins Wanken, zu Fall“ gebracht werde, erklärte Gog in seiner Rede auf dem Vagabundenkongress. In der Folgezeit radikalisierte er sich zunehmend, trat (erneut) der KPD bei und floh vor der Verfolgung durch das NS-Regime in die Sowjetunion, wo er nach dramatischen Jahren Ende 1945 verstarb. Die Vagabundengemeinschaft wurde ab 1933 systematisch von den braunen Machthabern in Deutschland verfolgt.

Im Jahre 1981 erregte der letztendlich gescheiterte Versuch, eine Neuauflage des Vagabundenkongresses zu veranstalten, noch einmal die Stadt Stuttgart: Alte Vorurteile und Ängste brachen sich erneut Bahn, diesmal sogar vermischt mit fremdenfeindlichen Stimmen.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Diethart Kerbs: Vagabundenkongreß Stuttgart Mai 1929 (= Edition Photothek, Bd. XVII), Berlin 1986 [darin: zahlreiche Fotografien des Kongresses].
  • Michael Kienzle/Dirk Mende:  Denkblatt: Gregor Gog. 1891 – 1945. Generalstreik das Leben lang! Stuttgart 2004 [digitale Ausgabe].
  • Patrick Spät/Beatrice Davies: Der König der Vagabunden. Gregor Gog und seine Bruderschaft, Berlin 2019 [Graphic Novel].
  • Klaus Trappmann: Landstraße, Kunden, Vagabunden. Gregor Gogs Liga der Heimatlosen, Berlin 1980.

Eine Antwort auf „Straße, endlose Straße – Der Vagabundenkongress 1929 in Stuttgart“

  1. Der Vagabund ist eine krisenhafte Figur, die die Umbrüche der Gesellschaft, wie sie an den Rändern der Kultur stattfinden, aufzuzeigen vermag.
    __1981 BerberKongress / Stuttgart
    __1991 Kongress der Besitzlosen / Uelzen
    __2014 Vagabundenkongress von Gregoria Gog / Stuttgart

    __2020 Vagabundenkongress VAGA2020 im August in Berlin
    siehe dazu: https://vaga2020.de

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