Hürden nehmen – Volksentscheide und -abstimmungen werden einfacher

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25. November 2015 | Sie sitzen morgens am Frühstückstisch und hören Rio Reiser singen, was er machen würde, wenn er König von Deutschland wäre: „Die Socken und die Autos dürften nicht mehr stinken!“ Er spricht Ihnen aus dem Herzen und sofort würden Sie Rio I. als Monarchen akzeptieren, wenn er nicht schon längst tot wäre; so tot wie Ihre Hoffnung auf geruchsfreie Straßen und Wohnzimmer? Nicht unbedingt: Bleiben Sie demokratisch gesinnt und schauen Sie in die Landesverfassung. Bereits in der ersten Fassung des Dokuments von 1953 regelten die Paragrafen 59 und 60, wie direkte Demokratie über Volksbegehren und Volksabstimmung ausgeübt werden konnten.

Volksbegehren, Volksabstimmung
Stinkende Autos und Socken? Ein Volksbegehren und eine Volksabstimmung könnten Abhilfe schaffen! (Collage: Hemberger)

Theoretisch, denn die Hürden waren hoch, sogar die höchsten in den alten Bundesländern. Ein Sechstel der Bevölkerung musste innerhalb von zwei Wochen auf Sammellisten ihre Unterstützung für ein Volksbegehren zum Ausdruck bringen. Dementsprechend zahnlos war dieses Verfahren. Ein erfolgreiches Volks-begehren zur Auflösung des Landtags in Folge der heftig diskutierten Gebietsreformen im Jahre 1971 blieb die absolute Ausnahme. Die Volksabstimmung über das Bahnprojekt „Stuttgart 21“ wurde von der damaligen grünen-roten Landesregierung gestartet.

Sie wollen noch immer gegen stinkende Socken und Autos gesetzlich vorgehen? Was Sie tun können, verrät Ihnen die Landesverfassung in der geänderten Form vom 25. November 2015. Eine Möglichkeit ist der sogenannte Volksantrag, bei dem Sie innerhalb eines Jahres 0,5 % der wahlberechtigten Baden-WürttembergerInnen dazu bringen müssen, für Ihr Anliegen zu unterschreiben. Der Landtag muss sich sodann mit dem Thema beschäftigen und – wenn Sie einen Gesetzesentwurf eingereicht haben – über diesen abstimmen. Wird er abgelehnt, können Sie einen Volksentscheid beantragen. Das hätten Sie auch sofort machen können, doch müssen Sie sich hierfür stärker ins Zeug legen. Schreiben Sie nicht irgendwas, sondern einen handfesten Gesetzesentwurf mitsamt Begründung.  Anschließend müssen Sie 10.000 Unterschriften für den Zulassungsantrag sammeln und es bleiben Ihnen sechs Monate Zeit, 10 % der Wahlberechtigten vom „Anti-Socken-und-Autogestank-Gesetz“ zu überzeugen. Erfolg gehabt? Klasse, nun stimmt der Landtag über den Entwurf ab. Wird er abgelehnt, kommt es zur Volksabstimmung, bei der wiederum 20 % der Wahlberechtigten teilnehmen und Ihren Vorschlag mehrheitlich zustimmen müssen.

Fazit: Direkte Demokratie lässt Sie durchatmen und hält fit.


Zum Weiterlesen und -forschen:

/// Morgen läuten im Onlinekalender die Hochzeitsglocken. Feiern Sie mit!

 

Eine Powerfrau für Württemberg-Baden – Anna Haag und die Hausfrauenarbeit

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24. November 1946 | Die Hausfrauenarbeit steht in schlechtem Ruf. Die Männer wollen sie noch immer nicht machen (schließlich handelt es sich ja um „Frauenarbeit“), und auch die Frauen, die sie auch dann noch machen müssen, wenn sie selbst schon längst erwerbstätig sind, zeigen sich auch zunehmend weniger begeistert von ihr. Das war einmal anders. Früher, als natürlich alles besser war, hatte sie zumindest eine mächtige Fürsprecherin: die SPD-Politikerin Anna Haag.

Für die am 10. Juli 1888 in Althütte im Welzheimer Wald geborene Haag begann die politische Mitverantwortung der Frauen nirgendwo anders als Zuhause: In der Hausfrauenarbeit gehe es „um nichts Geringeres (…) als um die Gestaltung unseres irdischen Lebens, um Wohnen und Essen, um Arbeit und Lohn, um Schule und Erziehung, um Frau und Beruf, (…) um Krieg und Frieden“ (zitiert nach Annette Kuhn, Frauen in der deutschen Nachkriegszeit, Bd. 2, Düsseldorf 1986, S. 158). Für Haag war es eine zentrale Lehre aus der NS-Zeit, dass die patriarchale Ehe und Familie dringend verändert werden mussten, um obrigkeitsstaatliche Verhaltensmuster endgültig zu durchbrechen.

Des Volkes Stimme | Eine Powerfrau für Württemberg-Baden - Anna Haag und die Hausfrauenarbeit

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Haag selbst verwirklichte dafür einen Meilenstein. Als Mitglied der Verfassungsgebenden Versammlung für das in der amerikanischen Besatzungszone neu entstandene Land Württemberg-Baden sorgte sie maßgeblich für Artikel 16: „Die der Familie gewidmete häusliche Arbeit der Frau wird der Berufsarbeit gleich geachtet.“ Und auch der darauf folgende Satz hatte es in sich: „An dem während der Ehe erworbenen Vermögen soll der Frau ein güterrechtlicher Anteil zustehen.“ Damit konnte das uneingeschränkte Verfügungsrecht des Mannes über das Ehevermögen abgeschafft werden. Haag setzte sich entsprechend vehement für die Annahme der Verfassung in der am 24. November 1946 durchgeführten Volksabstimmung ein. Bei einer Wahlbeteiligung von knapp 72 Prozent stimmten 69 % dafür, 10 % lehnten ab und 21 % konnten keinen gültigen Stimmzettel abgeben – auch Demokratie musste erst einmal gelernt werden.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  •  Anna Haag: Leben und gelebt werden. Erinnerungen und Betrachtungen, Tübingen 2003 [Autobiografie].
  • LpB: Lebensgeschichte.

/// Volksabstimmungen und ihre hohen Hürden sind morgen unser Thema!

Was steht drin? – das Quiz zur Verfassung von Baden-Württemberg

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19. November 1953 | Wer kennt eigentlich die 94 Artikel der Landesverfassung von Baden-Württemberg, die am 19. November 1953 in Kraft trat? Haben Sie die schon einmal gelesen? Dann dürfte unser kleines Quiz ja kein Problem sein. Es ist ganz einfach: Welcher Artikel steht wirklich in der Landesverfassung?


Zum Weiterlesen und -forschen:

/// Am 24. November steht eine weitere Landesverfassung zur Abstimmung.

Kampf dem Preiswucher! (Teil 3) – der vergessene Generalstreik

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12. November 1948 | Es war alles ganz still. Die Straßenbahnen fuhren nicht. Die Kaufhäuser hatten geschlossen, und die meisten anderen Geschäfte waren auch zu.  Kundgebungen und Demonstrationsumzüge waren verboten, also blieben die Arbeiterinnen und Arbeiter einfach zuhause oder gingen in ihre Gärten. Die Kleingartenanlagen sollen von Weinheim bis Ulm bestens besucht gewesen sein an diesem Freitag. Der unverhofft freie Tag half, Sträucher und Beete winterfest zu machen, zumindest in der Bizone, der amerikanischen und britischen Besatzungszone. Die Gärtnerinnen und Gärtner in Südbaden, Hohenzollern und Südwürttemberg mussten noch einen Tag länger warten – die Franzosen hatten in ihrem Machtbereich jede Arbeitsniederlegung strikt untersagt.

Gewerkschaftsaufruf zum Generalstreik 1948 (Bildnachweis: Stadtarchiv Stuttgart, Bestand 9400 Nr. 915)
Gewerkschaftsaufruf zum Generalstreik 1948 (Bildnachweis: Stadtarchiv Stuttgart, Bestand 9400 Nr. 915)

„Arbeitsruhe“ war das schöne Wort der Stunde. Die Gewerkschaften scheuten den Begriff „Generalstreik“, obwohl es natürlich de facto nichts anderes war. 24 Stunden lang sollte nicht gearbeitet werden, um gegen die Preiserhöhungen und die stagnierenden Löhne zu protestieren. Eigentlich galt der Streik aber der Politik von Ludwig Erhard, dem neuen starken Mann für Wirtschaft in dem „Vereinigten Wirtschaftsgebiet“ der Bizone. Der „Sozialen Marktwirtschaft“, wie Erhards Wirtschaftspolitik später in der Bundesrepublik genannt werden sollte, wollten sie ein Modell der „Wirtschaftsdemokratie“ mit Mitbestimmung und Lenkung entgegensetzen. Aber der große Erfolg des Streiks – rund neun Millionen der insgesamt fast zwölf Millionen Beschäftigten nahmen offensichtlich teil – blieb ungenutzt: Erhard saß die Proteste einfach aus.

Der Streik wurde aber immerhin zu einem Lehrstück in Demokratie. SPD und KPD befürworteten die Aktion, während CDU und DVP erwartungsgemäß von einem „Missbrauch des Streikrechts“ (Wolfgang Haußmann) sprachen. Die amerikanische Militärregierung, die nach dem „Stuttgarter Tumult“ nervös war, lehnte den Streiktag zwar ab, erkannte aber „das Streikrecht als eines der Rechte der Freien Gewerkschaften an“ und verbot ihn ausdrücklich nicht.


/// Am 19. November folgt das nächste Kalenderblatt. Wir fordern Sie zu einem Spiel heraus: Sind Sie dabei?

Ein mutiges Nein – Hermann Person und die Landesverfassung

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11. November 1953 | Dieser Mann traute sich etwas. Als am 11. November 1953 in der Verfassunggebenden Landesversammlung von Baden-Württemberg über die neue Landesverfassung abgestimmt wurde, sagte er Nein. Er war nicht ganz allein – die vier Delegierten der KPD versagten ebenfalls ihre Zustimmung. Aber Dr. Hermann Person, Regierungsrat in Freiburg, war alles andere als ein Kommunist: Er war Mitglied der CDU.

Dr. Hermann Person
Er hatte etwas gegen fehlende Bürgerbeteiligung: Dr. Hermann Person (Bildnachweis: Haupstaatsarchiv Stuttgart, Sign. LA 3/210 Bü 278; Einfärbung: HdGBW/Hemberger)

Er habe mit Nein gestimmt, „da die Verfassung nicht dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden wird“, begründete Person seine Ablehnung: „Ich halte die Forderung nach einer Volksabstimmung (…) für eine elementare demokratische Forderung.“ Schließlich seien die Verfassungen der drei in den neuen Südweststaat aufgegangenen Länder Württemberg-Baden, Baden und Württemberg-Hohenzollern durch Volksabstimmungen legitimiert worden. Und dann hatte Person noch ein besonderes Beispiel parat: Obwohl die badische Verfassung von 1919 von der Karlsruher Nationalversammlung einstimmig angenommen worden war, sei sie dem Volk vorgelegt worden. Nur das Außerkraftsetzen der Verfassung durch die Gleichschaltungsgesetze in der NS-Zeit seien „der bisher einzige vom Volk nicht bestätigte Eingriff in die badische Verfassungsgeschichte seit 1919.“ Ähnlich argumentierten auch die KPD-Mitglieder, die überdies fehlende Möglichkeiten zu Volksbegehren in der Landesverfassung ankreideten.

Auch im weiteren Verlauf seiner politischen Karriere bewahrte sich Person einen eigenen Kopf. Als Freiburger Regierungspräsident setzte sich der überzeugte Südbadener ab 1967 nicht nur für die Wirtschaftsförderung und den Ausbau von Verkehrswegen ein. Er knüpfte auch sehr früh Kontakte zu den Nachbarn auf der anderen Rheinseite oder stoppte für den Umweltschutz mehrfach umstrittene Bauvorhaben. Selbst nach seiner Pensionierung forderte Person als Präsident des Schwarzwaldvereins weiterhin eine umfangreiche Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger.


Zum Weiterlesen und -forschen:

/// Alle Räder stehen still … Halt: Unser OnlineKalender bringt morgen auf jeden Fall ein neues Blatt über einen bemerkenswerten Streik.

1918, der Südwesten erhebt sich (Teil 4) – Badens provisorische Regierung

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 10. November 1918 | Stuttgart und Friedrichshafen hatten stark vorgelegt: Mit Generalstreik und der frühen Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten am 4./5. November stand Württemberg in erster Reihe des revolutionären Geschehens von 1918. Verschlief Baden die Veränderungen? Natürlich nicht: Am 8. November fanden sich in den badischen Garnisonsstädten Lahr und Offenburg erste Soldaten in Räten zusammen; über den Rüstungswerken in Karlsruhe hatten Arbeiter rote Fahnen gehisst. Kern der Krise, in der „das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann“ (Antonio Gramsci) war die Frage, welche Institution in Zukunft die Regierungsmacht ausüben darf und wer sie dazu berechtigt.

Zwei Tage darauf wurde eine doppelte Lösung auf die Frage gefunden. Der Arbeiter- und Soldatenrat Mannheim rief die „Sozialistische Republik Baden“ aus. Weiter in Süden wandte sich der Karlsruher Soldaten- und Arbeiterrat (SAR) an die Bevölkerung der badischen Residenzstadt:

„Eine neue Zeit der Freiheit ist angebrochen. Lasst uns ihrer würdig sein. […] Haltet zu ihm [dem SAR], vertraut ihm. Sorgt selbst für Ruhe und Ordnung, die unbedingt im Interesse der Allgemeinheit gewahrt werden muss.“

Bei Gewalttätigkeiten wurden standrechtliche Erschießungen angedroht. So weit kam es aber nicht: Dass die Revolution im Südwesten weitgehend friedlich verlief, liegt auch in der historisch gemäßigten Einstellung der Sozialdemokraten begründet, die in Baden ab 1905 eng mit den Liberalen zusammengearbeitet hatten und 1918 einen erheblichen Teil der Mitglieder in lokalen Räten stellten. Radikale Kräfte wie die Unabhängige Sozialdemokratische Partei (USPD) hatten es schwer, ihrer Meinung Gehör zu verschaffen.

Die vorläufige Volksregierung Badens nimmt Platz (Generallandesarchiv Karlsruhe, Nachlaß Geis, Nr. 1)
Die vorläufige Volksregierung Badens nimmt Platz (Generallandesarchiv Karlsruhe, Nachlaß Geis, Nr. 1)

In Karlsruhe arbeiteten SAR und Wohlfahrtsausschuss, ein Zusammenschluss verschiedener Parteien, eng zusammen und fanden sich am 10. November zu einer provisorischen Regierung zusammen. Vorsitzender wurde der SPD-Mann Anton Geiß. Großherzog Friedrich II. von Baden blieb nichts anderes übrig, als ohnmächtig zu akzeptieren, was er nicht mehr ändern konnte. Fünf Sozialdemokraten, zwei USPD-Mitglieder, zwei Zentrums-Mitglieder sowie jeweils ein Mitglied der Fortschrittlichen Volkspartei und der Nationalliberalen Partei stellten die Minister. Schon in ihrer ersten Bekanntmachung kündigten sie an, das Volk über die zukünftige Staatsform, Monarchie oder Republik, abstimmen zu lassen.

Des Volkes Stimme | 1918, der Südwesten erhebt sich (Teil 4) – Badens provisorische Regierung

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Am Folgetag forderte der eigenmächtig handelnde Matrose Heinrich Klumpp den „größten Lump von Baden“, Großherzog Friedrich II., zum Thronverzicht auf und feuerte mit einigen Begleitern auf die Fassade des Karlsruher Schlosses. Eingeschüchtert verließ der Monarch die Stadt, auf den Thron verzichtete er aber erst am 22. November.

Parlamentarische Republik oder Räterepublik: Diese Frage sollte nicht nur in Baden die kommenden Monate beherrschen.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Martin Furtwängler (Bearb.): Die Protokolle der Regierung der Republik Baden, Bd. 1: Die provisorische Regierung November 1918 – März 1919 (= Kabinettsprotokolle von Baden und Württemberg 1918-1933 Teil I, Bd. 1), Stuttgart 2012.
  • Markus Schmidgall: Die Revolution 1918/19 in Baden, Karlsruher 2012 [Digitalisat des KIT].

/// Morgen steht ein gewichtiges „Nein“ im Mittelpunkt!

1918, der Südwesten erhebt sich (Teil 3) – Karl Fraaß und die Revolution

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9. November 1918  | Revolution in Stuttgart! Für den 18-jährigen Karl Fraaß ging am 9. November 1918 ein Traum in Erfüllung. Begeistert schrieb der aus Wannweil stammende Elektromonteur in sein Tagebuch auf, wie er mitten im Geschehen war.  Als „Spartakist“ zählte er sich zum linken Flügel der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD), die sich wegen ihrer Ablehnung des Krieges von der SPD abgespalten hatte. Fraaß wollte eine sozialistische Räterepublik verwirklichen, in der die Arbeiterinnen und Arbeiter bestimmen sollten.

Tatsächlich wehte am 9. November 1918 eine rote Fahne über dem Wilhelmspalais, dem Wohnsitz von König Wilhelm II.. Selbst in Württemberg hatte der populäre König keine Zukunft mehr, auch wenn sich seine Abdankung noch bis zum 30. November hinauszögerte. Aber für eine „sozialistische Republik“ gab es deswegen noch lange keine Chance. Im liberal-konservativ geprägten Württemberg bekannte sich die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung zu einer umfassende Beteiligung aller Bevölkerungsschichten und lehnte einen radikalen Bruch ab.

Des Volkes Stimme | 1918, der Südwesten erhebt sich (Teil 3) - Karl Fraaß und die Revolution

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Fraaß musste dies schnell enttäuscht feststellen. Bereits am 20. November notierte er: „Die Revolution wird von den Blauen Schritt für Schritt verraten auf den Schlossplatz werden schwarz-weiß-rote Fahnen u. Wimpeln aufgehängt um den heimkehrenden Truppen etwas zu bieten u. diese marschieren in voller Ausrüstung samt Stahlhelm ein. O Revolution, ich beklage deinen frühen Fall. O Tage der Freiheit wo seid ihr geblieben?“ Fraaß wollte dies nicht akzeptieren und kämpfte mit der Waffe in der Hand am 9. Januar 1919 für „seine“ Republik, als er an der Tagblattturm-Besetzung in Stuttgart teilnahm. Vergebens!

Auch nach der Revolution blieb das Leben von Fraaß mehr als spannend. Er trat der neuen KPD bei und hoffte noch immer auf die „richtige“ Revolution. Nachdem er 1930 arbeitslos geworden war, reiste er zweimal in die Sowjetunion. Im März 1933 rettete er sich vor den Nationalsozialisten in die Schweiz. Im Exil in der Schweiz begann seine Ernüchterung über den Kommunismus. Die Schweiz schob ihn 1940 nach Deutschland ab. Als Mitglied der Organisation Todt kam Fraaß an die Ostfront und musste bis 1944 Kriegsdienst leisten. Ab 1946 baute er den Behrendt-Verlag in Stuttgart auf und gründete die Buchgemeinschaft „Stuttgarter Bücherfreunde“. Politisch überzeugten ihn nun vor allem Theodor Heuss und dessen liberale Demokratische Volkspartei (DVP). Fraaß starb 1962.


Zum Weiterlesen und -forschen:

/// Morgen stellt sich in unserem OnlineKalender die Machtfrage. Blieben Sie neugierig!

1918, der Südwesten erhebt sich (Teil 2) – der irrtümliche Generalstreik

Ein Kommentar

4. November 1918 | Vielleicht war es ein Anflug revolutionärer Ungeduld, als der Stuttgarter Delegierte Ferdinand Hoschka die Sitzung der revolutionären Betriebsobleute in Berlin vorzeitig verließ. Sonst hätte er bei seiner Rückkehr nach Stuttgart den Genossen um Fritz Rück nicht irrtümlicherweise mitgeteilt, dass ein reichsweiter Generalstreik für den 4. November 1918 vorgesehen war. Sofort ließ Rück Flugblätter drucken und traf Vertrauensleute aus verschiedenen Stuttgarter Betrieben. „Unsere Flugblätter haben eingeschlagen, aber in der Sitzung der Betriebsvertreter wandten sich einige Sozialdemokraten und Gewerkschafter scharf gegen den Streik“, erklärte zwar ein Vertrauensmann bei Daimler dem wartenden Rück am morgen des 4. November. Doch es gab kein Halten mehr: Tausende Arbeiterinnen und Arbeiter zogen durch den Stuttgarter Osten und trafen auf einen zweiten Zug der Cannstatter Schuharbeiter.

„In dem Zuge, der etwa 10-12.000 Personen umfasste, sah man vorwiegend junge Burschen und Arbeiterinnen […]. Die Leute an der Spitze schrien und brachten Hochrufe auf die sozialistische Republik aus“,

beschreibt der damalige württembergische Staatsminister des Inneren, Ludwig Köhler, die Szene. Vorbei am Wilhelmspalais, dem Wohnsitz von König Wilhelm II., zog die Masse zum naheliegenden Schlossplatz, versäumte es jedoch nicht, dem Hausherrn ein „Hoch auf die Republik“ entgegen zu schmettern. In einer Rede forderte Fritz Rück die Abdankung aller deutschen Monarchen. Fortan sollten Arbeiter- und Soldatenräte demokratisch über das Geschick des Landes entscheiden.

Schließlich kam es zum Showdown zwischen den Revolutionären und der Staatsmacht im Innenministerium. Schnell war klar, dass es keine Einigung geben konnte.  „S’ischt aber wäge dem Sischtem!“, konterte Karl Seeberger den Hinweis des Innenministers, dass der König in Württemberg doch immer vorbildlich konstitutionell regiert habe. Nach weiteren Protestzügen und Ansprachen endete die Demonstration um 16.30 Uhr.

Die Rote Fahne vom 5. November 1918 (Bildnachweis: Hauptstaatsarchiv Stuttgart P 2 Bü 12)
Die Rote Fahne vom 5. November 1918 (Bildnachweis: Hauptstaatsarchiv Stuttgart P 2 Bü 12).

Zwei Stunden später trat der Arbeiter- und Soldatenrat Württembergs mit Rück als Vorsitzenden zum ersten Mal im Gewerkschaftshaus zusammen. Dessen Forderungen wurden in einer neuen Zeitung, der „Roten Fahne“, abgedruckt. Die Ernüchterung war groß, als am Folgetag klar wurde, dass nur in Stuttgart gestreikt worden war. Noch hielt Friedrichshafen die Streikfahne hoch, was Rück und August Thalheimer veranlasste, zu den rund 5.000 Demonstrierenden zu fahren. Noch im Zug wurden sie verhaftet. Den Zug der Zeit konnten die Polizeibeamten allerdings nicht mehr anhalten.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Sylvia Neuschl: Geschichte der USPD in Württemberg, oder: Über die Unmöglichkeit einig zu bleiben, Esslingen 1983, S. 157-163.
  • Ludwig Köhler: Zur Geschichte der Revolution in Württemberg. Ein Bericht, Stuttgart 1930.
  • Die Erinnerungen Fritz Rücks an die Revolution im Südwesten, vgl. Fritz Rück: Schriften zur deutschen Novemberrevolution (=Beiträge zur Geschichte des Sozialismus und der sozialen Bewegung in Süddeutschland, Bd. II), hrsg. von Ulrich Cassel/u.a., Stuttgart 1978.
  • Elisabeth Benz: Ein halbes Leben für die Revolution. Fritz Rück (1895 – 1959). Eine politische Biografie, Essen 2014.
  • Haus der Geschichte Baden-Württemberg (Hg.): Vertrauensfragen. Der Anfang der Demokratie im Südwesten, 1918 – 1924. Katalog zur Großen Landesausstellung, Haus der Geschichte Baden-Württemberg, 30. September 2018 bis 11. August 2019, Stuttgart 2018.

/// Der nächste Eintrag folgt am 9. November.

Filderkraut statt Flughafen – die Schutzgemeinschaft Filder nimmt den Kampf auf

Ein Kommentar

31. Oktober 1967 | Der Schauspieler Louis de Funès setzte mit seinem kultigen Filmklamauk „Louis und die außerirdischen Kohlköpfe“ einer wahren Vitamin-C-Bombe ein Denkmal. Im Film waren Außerirdische von der Kohlsuppe zweier französischer Bauern dermaßen begeistert, dass sie zum Dank den beiden einen Alterswohnsitz auf einem fernen Planeten anboten, wo sie in Ruhe und Frieden leben konnten.

Nicht gewöhnlicher Kohl, sondern das edle Filderspitzkraut, und auch keine UFOs, sondern lärmende irdische Flugzeuge spielten Mitte der 1960er Jahre auf der Filderebene im Süden von Stuttgart eine Hauptrolle. Im Sommer 1967 wurde der Generalausbauplan für den Flughafen Stuttgart verkündet: Drei Landebahnen sollten bei Plieningen das Ländle an die „große weite Welt“ anbinden und interkontinentale Flugverbindungen ermöglichen. Doch wer neben dem bestehenden Flughafen wohnte, war bereits damals von Lärm und Abgasen geplagt und fürchtete eine massive Dauerbeschallung. Landwirte warnten vor einer Betonierung des fruchtbaren Filderbodens: Drohte das Ende des Filderkrautes und mit ihm der Landwirtschaft vor Ort?

Des Volkes Stimme | Filderkraut statt Flughafen – die Schutzgemeinschaft Filder nimmt den Kampf auf

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52 Aktive beschlossen in einer Versammlung in Plieningen, als „Schutzgemeinschaft gegen Großflughafen e.V“ den Kampf aufzunehmen. Bereits ein Jahr später war die Mitgliederzahl der Bürgerinitiative auf 5.000 angewachsen und ein erster Erfolg zu vermelden: Gemeinsam mit 22 Anliegerstädten und -gemeinden konnte ein Nachtstartverbot für moderne Düsenflugzeuge erstritten werden. In den Folgejahren stand die Bürgerinitiative  unter ihrer rührigen Vorsitzenden Liesel Hartenstein vor immer neuen Herausforderungen, sei es nun bei der Durchsetzung von Schallschutzmaßnahmen, der Abwehr weiterer Ausbaupläne des Flughafens und ab den 1990er Jahren beim Streit um den Neubau der Messe. Nicht immer waren die Spitzkrautfreunde erfolgreich, doch aufgeben kam nicht in Frage: 2017 feierte die Schutzgemeinschaft ihren 50. Geburtstag und ist damit die älteste existierende Umweltinitiative Deutschlands.


Zum Weiterlesen und -forschen:

/// Unser nächstes Kalenderblatt folgt am 4. November. Die Revolution nimmt Fahrt auf.

Premiere in Mannheim – die erste Vorlesung einer Frau

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29. Oktober 1908 | Die besten Überraschungen kommen immer am Ende. Die LeserInnen des Mannheimer General-Anzeigers vom 26. September 1908 staunten nicht schlecht, als sie die letzten Zeilen der Ankündigung der öffentlichen Vorlesungen im Wintersemester an der Mannheimer Handelshochschule lasen: „Und die erste von einer weiblichen Dozentin in einer deutschen Hochschule abgehaltene Vorlesung der Frau Altmann-Gottheiner über die Arbeiterinnenfrage, donnerstags.“

Im Vorlesungsverzeichnis der Handelsschule Mannheim steht es schwarz auf weiß: Frau Dr. Altmann-Gottheiner lehrt.
Im Vorlesungsverzeichnis der Handelsschule Mannheim steht es schwarz auf weiß: Frau Dr. Altmann-Gottheiner lehrt. (Bildnachweis: Universitätsarchiv Mannheim)

Am 29. Oktober 1908 war es um 19 Uhr soweit. Im Auditorium der Handelshochschule trat eine Frau an das Katheder, um ihre Vorlesung zu halten. Nicht weniger als 61 Jahre nachdem Louise Dittmar ebenfalls in Mannheim im ersten öffentlichen Vortrag einer Frau über die Gleichberechtigung gesprochen hatte, vollzog Dr. Elisabeth Altmann-Gottheiner einen weiteren großen Schritt in Richtung Emanzipation der Geschlechter. Das Thema ihrer Lesung sprach für sich.

Frau Dr. Altmann-Gottheiner (Bildnachweis: Universitätsarchiv Mannheim)
Frau Dr. Altmann-Gottheiner (Bildnachweis: Universitätsarchiv Mannheim)

Elisabeth Gottheiner war am 26. März 1874 in Berlin geboren worden. Da in Deutschland die Beschränkungen für Frauen allgegenwärtig waren, ging sie zum Studium der National-Ökonomie nach London und Zürich, wo sie 1902 promovierte. In Frankfurt am Main setzte sie sich aktiv für die Frauenbewegung ein, bevor ihr Ehemann Sally Altmann einen Lehrauftrag in Mannheim erhielt. Sie selbst wurde als „Lehrkraft für einzelne Vorlesungen“ angestellt. Ihren wissenschaftlichen Schwerpunkt setzte sie fortan bei Themen der Frauen- und Sozialpolitik. Auch nach dem Krieg blieb sie in Mannheim und etablierte sich endgültig an der Hochschule. Am 30. April 1925 wurde sie zur Professorin ernannt. Nur fünf Jahre später verstarb sie.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Isabel Funke: Frauenbildung im Kaiserreich. Elisabeth Altmann-Gottheiner im Kontext ihrer Zeit, Bachelorarbeit an der Universität Mannheim, 2014.
  • Rosmarie Günther: Eine vorbildliche Netzwerkerin – Elisabeth Altmann-Gottheiner (1874-1930), in: Mannheimer Geschichtsblätter remmagazin 20/2010, S. 21-34.
  • LEO-BW: Lebenslauf von Elisabeth Altmann-Gottheiner.

/// Am 31. Oktober wird es laut. Doch keine Angst: Bürgerinnen und Bürger wehrten sich!

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