Lauter Störfälle – die Schönauer Stromrebellen übernehmen das Stromnetz

Ein Kommentar

10. März 1996 | Spannung ist messbar, das bestätigt jeder und jede ElektrotechnikerIn. Die emotionale Spannung, die an diesem besonderen Wahlabend in der kleinen südbadischen Kommune Schönau herrschte, war unermesslich: Wer würde im jahrelangen Ringen um das Stromnetz den Sieg davontragen: Die Stromrebellen oder der etablierte Versorger, die „Kraftübertragungswerke Rheinfelden“ (KWR)? Der Aufbruch in die Zukunft der Energieversorgung in Schönau begann mit einer Katastrophe, die sich über 1.600 Kilometer weiter östlich abgespielt hatte, mit dem Reaktorunfall von Tschernobyl. Das Ehepaar Ursula und Michael Sladek ergriff zusammen mit anderen alarmierten Schönauern die Initiative und nahmen den Kampf gegen Nutzung der Kernkraft im eigenen Land auf.

Des Volkes Stimme | Lauter Störfälle – die Schönauer Stromrebellen übernehmen das Energienetz

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Durch energisches Stromsparen sollte den großen Stromkonzernen das Geld abgegraben werden. Jedoch wuchs rasch die Erkenntnis, dass die Lösung nur eine vollständige Loslösung von der Abhängigkeit externer Stromversorger sein konnte: Ende 1990 gründet sich die Netzkauf Schönau GbR. Anfang 1991 verlängerte der Gemeinderat den bestehenden Konzessionsvertrag mit der KWR, die auf Atomkraft setzte und als kapitalkräftiger Stromanbieter für viele Menschen vor Ort die sicherere Wahl darstellte. Die Stromrebellen von der Netzkauf organisierten daraufhin einen Bürgerentscheid, der im Oktober 1991 richtungsweisend ausging: 55,7 % stimmten für die Aufnahme von Verhandlungen zum Kauf des lokalen Stromnetz.

Je enger, desto größer der Widerstand, ist eine weitere Regel in der Elektrolehre. Enger wurde es für die KWR nach der Gründung der Elektrizitätswerke Schönau (EWS) im Jahre 1994. Nachdem der Gemeinderat im November 1995 entschieden hatte, der EWS den Konzessionszuschlag zu geben, strebte diesmal die unterlegene CDU-Fraktion einen Bürgerentscheid an, um das „drohende Abenteuer“ abzuwenden. Während die KWR und die Bürgerinitiative „Pro Bürgerentscheid“ mit Zahnbürsten, Flugblättern und moderner Technik eine sichere Stromversorgung und stabile Preise versprachen, warben die Stromrebellen mit Marmelade, nachhaltigen Argumenten und viel persönlichen Einsatz für ein „Nein“ zur Verlängerung des KWR-Vertrags. Am Wahlabend zeigte sich erneut, wie zerrissen die Kommune bezüglich der Stromfrage war: Mit lediglich rund 54 % der abgegebenen Stimmen erteilten die Schönauer dem alten Stromversorger KWR eine Absage. Die siegreichen Stromrebellen traten nun die mühevolle Aufgabe an, das Stromnetz aufzukaufen und die Elektrizitätsversorgung in eigene Hände zu nehmen.

Das Schönauer Beispiel hat Schule gemacht: Einige Kommunen in Deutschland betreiben bereits die lokale Stromversorgung in Eigenregie, in BürgerInnenhand.


Zum Weiterlesen und -schauen:

  • Bernward Janzing: Störfall mit Charme. Die Schönauer Stromrebellen im Widerstand gegen die Atomkraft, Vöhrenbach 2008.
  • DVD: Die Schönauer Gefühl. Die Geschichte der Stromrebellen aus dem Schwarzwald. Eine Produktion des Fördervereins für umweltfreundliche Stromverteilung und Energieerzeugung Schönau im Schwarzwald e.V., Schönau 2007.

/// Am 12. März geht es spannend weiter: Frauenpower an der Uni in unserem Onlinekalender.

Weil Blumen nicht reichen – der Frauenstreik in Tübingen

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8. März 1994 | Der Weltfrauentag, ein zweiter Muttertag mit Blumen und Geschenken? Streitbare Frauen wie Edda Rosenfeld, über viele Jahre Frauenbeauftragte der Stadt Tübingen, wollten neue Wege beschreiten: „Wir müssen mal ein bisschen aus dem Rahmen fallen, um zu irritieren und nicht nur immer mehr vom selben zu tun!“, so ihre damalige Überzeugung als Mitglied des Vorbereitungsteams zum Frauenstreik 1994. Vorläufer der Proteste waren unter anderem der Frauenstreik auf Island im Jahr 1975 sowie der Streik in der Schweiz 1991. In der eher beschaulichen Universitätsstadt Tübingen fielen die streikenden Frauen mit zahlreichen Aktion richtig aus dem Rahmen: Neben der Blockade des Lustnauer Tors durch 200 Aktivistinnen sorgten die Streikenden unter anderem mit einer humorvollen Abladeaktion typischer Hausarbeitsgeräte auf dem Marktplatz für Aufmerksamkeit.

Des Volkes Stimme | Weil Blumen nicht reichen – der Frauenstreik in Tübingen (I)

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Die Themen, welche auf den Kundgebungen und kreativen Happenings zur Sprache gebracht wurden, waren vielfältig: Ungleiche Löhne, Gewalt gegen Frauen, eine Doppelbelastung durch Arbeit und Haushalt, überkommene Rollenklischees, § 218 und viel mehr. Dass es sich hierbei nicht um reine Frauenprobleme handelte, sondern um gesamtgesellschaftliche, versuchte die Frauenbewegung jener Jahre zu vermitteln. An zahlreichen anderen Orten in Baden-Württemberg wiederholten sich die Tübinger Szenen: In Stuttgart besetzten Frauen den Verkehrsknotenpunkt Charlottenplatz und erhoben Forderungen nach einer Umbenennung des Karlsplatz in Clara-Zetkin-Platz. In Heidelberg hieß der Rathausplatz einen Tag lang Rote-Zora-Platz. Hier öffnete Oberbürgermeisterin Beate Weber das Rathaus den streikenden Frauen. Echte Arbeitsniederlegungen in den Betrieben blieben allerdings die Ausnahme, auch wenn vereinzelnd Betriebsversammlungen dazu genutzt wurden, die Anliegen des Frauenstreiktags zu diskutieren.

Des Volkes Stimme | Weil Blumen nicht reichen – der Frauenstreik in Tübingen (II)

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Auch 20 Jahre später seien die damals vorgetragenen Forderungen noch immer tagesaktuell, bemerkt Susanne Rückl-Kohn, Leiterin des Bildungszentrums und Archivs zur Frauengeschichte Baden-Württembergs Tübingen (BAF e.V.). Höchste Zeit also, selber aktiv zu werden: Heute findet bundesweit eine Neuauflage der 1994er-Aktionen statt: Bunt, kreativ, laut soll es werden – und Sie mittendrin? Das gilt selbstverständlich auch für alle Männer.

(Wir bedanken uns bei Edda Rosenfeld sowie bei Susanne Rückl-Kohn vom BAF. e.V. Tübingen).


Zum Weiterlesen und -forschen:

Politik war sein Leben – der Tod Friedrich Eberts

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5. März 1925 | „Der Trauertag war ein Tag der Republik“, so urteilte der Heidelberg Volksfreund (Nr. 54/6.3.1925) über die Beisetzung des ersten Reichspräsidenten Friedrich Ebert am 5. März 1925. Wie kam eine sozialdemokratische Zeitung dazu, so etwas nach dem Tod eines ihrer Leute zu schreiben? Das ist nur zu verstehen vor dem Hintergrund der konfliktreichen und schwierigen Anfänge der ersten deutschen Demokratie, deren Entstehung Friedrich Ebert maßgeblich prägte. Der gebürtige Heidelberger hatte schon in der Revolution 1918 sein ganzes politisches Gewicht in die Waagschale geworfen, um möglichst schnell eine parlamentarische Demokratie zu schaffen. In den vielen Krisen der ersten Jahre diente Reichspräsident Ebert als Stabilitätsanker der neuen politischen Ordnung und warb in In- und Ausland erfolgreich für Vertrauen in die erste deutsche Demokratie. Feinde der Republik von links und rechts verbreiteten fake news über Ebert, um so auch die Glaubwürdigkeit der Demokratie zu zerstören.

Ebert, wie er leibt und lebt, beim Spaziergang in Stuttgart 1920 (Bildnachweis: Hauptsstaatsarchiv Stuttgart P2 Bü 77 Bild 4).
Ebert, wie er leibt und lebt: Als die Reichsregierung vor dem Kapp-Putsch nach Stuttgart fliehen musste, stand Ebert für parlamentarische Stabilität (Bildnachweis: Hauptsstaatsarchiv Stuttgart P2 Bü 77 Bild 4).

Politik war sein Leben, unter Umständen auch sein Tod: Die politische Eingebundenheit ließen den Reichspräsidenten eine Blinddarmentzündung auf die lange Bank schieben, an der er schließlich am 28. Februar 1925 starb. Die Hunderttausenden, die an den Trauerfeiern in Berlin sowie an der Beerdigung Eberts am 6. März 1925 in seiner Geburtsstadt Heidelberg teilnahmen, zollten dem Verstorbenen nicht nur Respekt und Dank für seinen Einsatz. Die Trauerfeiern waren auch ein überwältigendes Bekenntnis zu dem, für das Friedrich Ebert bis zuletzt gelebt und gekämpft hatte, zur ersten deutschen Demokratie, zur Weimarer Republik.

(Gastbeitrag von Dr. Christopher Dowe)


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Walter Mühlhausen, Die Republik in Trauer. Der Tod des ersten Reichspräsidenten Friedrich Ebert, Heidelberg 2005.
  • Landesarchiv Baden-Württemberg Generallandesarchiv Karlsruhe 231 Nr. 3364; 334 Nr. 3-11
  • GLA 231 Nr. 3364; 334 Nr. 3-16

/// Jugendliche sind nur faul und interessieren sich nicht für Politik? Mit diesem Vorurteil räumen wir am 7. März auf!

Der Remstalrebell – wie Helmut Palmer Oberbürgermeister wurde (beinahe)

8 Kommentare

3. März 1974 | Mit Speck fängt man Mäuse, und mit „Rebellenwurst“ Wählerinnen und Wähler? Wenn diese Wurst auch noch von einem Obsthändler großzügig verteilt wird, befinden wir uns mitten in einem der kuriosesten Kommunalwahlkämpfe der jüngeren Vergangenheit. Insgesamt rund 300 Mal versuchte der Ausnahmepolitiker Helmut Palmer seit Mitte der 1960er Jahre bis in die 90er in verschiedenen Kommunen und Städten Baden-Württembergs auf einen Bürgermeisterstuhl gehoben zu werden – stets erfolglos. Für die einen war er ein „Volkstribun“, ein schwäbischer Don Quijote gegen Bürokraten und Amtsstubenherrschaft, einer „für den kleinen Mann“. Für andere wiederum ein „kleiner Adolf“, ein ungehobelter Querulant des Politgeschäfts oder schlichtweg ein Verrückter.

Des Volkes Stimme | Der Remstalrebell – wie Helmut Palmer Oberbürgermeister wurde (beinahe)

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Anlässlich der Oberbürgermeisterwahl in Schwäbisch Hall im Februar/März 1974 lieferte Palmer sein Meisterstück ab. Er wetterte gegen die Stadtverwaltung und deren vermeintliche Faulheit, beleidigte auf das heftigste politische Mitbewerber und sonstige Palmer-Gegner („Schleimscheißer“; „Lausbub“; „Sudelsäue“). Doch Palmer war auch ein Visionär: Er forderte den Bau einer Seilbahn, eines Parkhauses über dem Fluss Kocher, eine autofreie Innenstadt und Maßnahmen zur Verbesserung der Verkehrssicherheit (wenn auch mit fraglichen Mitteln, wenn er eigenmächtig zum Fällen von Bäumen an Straßen aufrief). Menschen, die sich von den etablierten Politikern nicht gehört und ernstgenommen fühlten, setzten ihre Hoffnung auf den Unabhängigen. Zudem erfuhr der Remstalrebell finanzielle Unterstützung durch einen lokalen Unternehmer, der noch eine Rechnung mit der Stadtverwaltung offen hatte. Gemeinsam mit den Spenden seiner Fans konnte Palmer einen Vollzeitwahlkampf aufziehen. Nach gewonnenen erstem Wahlgang er holte rund 41 %, sein nächster Mitbewerber, der von der CDU unterstützte Karl-Friedrich Binder, lediglich 30 % stand die Kleinstadt politisch Kopf und eine Stichwahl musste die Entscheidung bringen. Die Augen Westdeutschlands waren auf die ehemalige Reichsstadt gerichtet.

Als am 3. März 1974 Helmut Palmer sich mit 41,4 % dem konservativen Platzhirsch Binder geschlagen geben musste, war des Rebellen Geist nicht gebrochen. Tausende SympathisantInnen jubelten ihm zu, während Palmer vom Marktplatzpranger herab von einem „ergaunerten Wahlsieg“ des „Schmutzlappen“ Binders sprach.

Palmers größter Erfolg war vielleicht nicht sein gutes Abschneiden in Hall, sondern die Tatsache, dass sich etablierte PolitikerInnen über die wachsende Entfremdung mit dem Wahlvolk und neue Formen des bürgerschaftlichen Engagements Gedanken machen mussten.

PS: Üblicherweise sehen wir davon ab, auf Stil und Inhalt der Sprecherkommentare in den historischen Filmbeiträgen einzugehen. In diesem Fall wollen wir jedoch eine Ausnahme davon machen: Die offenen sprachlichen Angriffe auf Helmut Palmer können wir nur kopfschüttelnd wahrnehmen. Hier wurden offensichtlich alle Grundsätze von journalistischer Objektivität, Sachlichkeit und Neutralität über Bord geworfen.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Jan Knauer: Bürgerengagement und Protestpolitik. Das politische Wirken des „Remstalrebellen“ Helmut Palmer und die Resonanzen seiner Mitmenschen. Dissertation, Univ. Tübingen, 2012.
  • Jan Knauer: Helmut Palmer: Der Remstal-Rebell. Darmstadt 2014.
  • Helmut Palmer: Mein Kampf und Widerstand im Filbingerland, Genf 1978.

/// Am 5. März wird ein ganz Großer zu Grabe getragen.

Die erste Studentinnen – Johanna Kappes und Rahel Straus

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28. Februar 1900 | Kommt ein Mann zur Ärztin: „Frau Doktor, Sie haben doch studiert, vielleicht können Sie mir weiterhelfen?“ – Den Witz kennen Sie anders? Es ist doch stets ein männlicher Akademiker, der sich mit den Nöten seiner Mitmenschen herumschlagen muss, oder? Im Humor bildet sich grundlegender gesellschaftlicher Wandel bisweilen recht spät ab, was sich besonders am zotenhaften Altherrenwitz zeigt. Ganz ohne Flachs: Im Jahr 2018 hatten bereits rund 30 % aller weiblichen Einwohner Deutschlands zwischen 30 und 34 Jahren einen Hochschulabschluss (Männer: 27 %) und etwas weniger als die Hälfte der rund 360.000 Studierenden in Baden-Württemberg waren im Wintersemester 2016/17 weiblich. An dritter Stelle der bei Frauen beliebtesten Studiengänge rangierte Medizin (der Frauenanteil lag hier bei 63 %).

Es verwundert nicht, dass Frauen ihr Recht auf ein Studium mühselig erkämpfen mussten. Mit der Einrichtung des ersten Gymnasiums für Frauen in Karlsruhe im Jahre 1893, war der Bildungshunger ihrer Absolventinnen wie Rahel Goitein (verh. Straus) und Johanna Kappes (verh. Worminghaus) noch lange nicht gestillt. Beide erwarben 1899 ihr Abitur.

 

Kappes begeisterte sich für Medizin. Durch energischen Nachfragen bei Freiburger Professoren erkämpft sie sich das Recht, als Gasthörerin an den Vorlesungen teilzunehmen. Bestärkt durch den „Verein Frauenbildung – Frauenstudium“ bittet Johanna Kappes in einem mutigen Brief an den Freiburger Senat um eine Vollzulassung. Vor Ort wird ihre Petition abgelehnt, doch das Badische Ministerium der Justiz, des Kultus und des Unterrichts verkündet in einem Erlass vom 28. Februar 1900, das die Universitäten fortan Studienanwärterinnen offen stehen. Als erste Studentin Deutschlands kann Kappes nach vier Jahre ihr Studium mit einer Promotion krönen und betreibt später als Ärztin eine Gemeinschaftspraxis mit ihrem Ehemann in Nürnberg.

Rahel Goitein-Straus ging ihren Bildungsweg konsequent bis zur Promotion (Bildnachweis: Institut für Stadtgeschichte Karlsruhe).
Rahel Goitein-Straus ging ihren Bildungsweg konsequent bis zur Promotion (Bildnachweis: Institut für Stadtgeschichte Karlsruhe).

Rahel Straus schrieb sich im Jahre 1900 für ein Medizinstudium an der Universität Heidelberg ein und gehörte im folgenden Jahr der Vereinigung studierender Frauen Heidelberg an. Nach ihrer Promotion im Jahre 1907 eröffnete sie in München eine gynäkologische Praxis.

Die akademische Landschaft in Deutschland ist seit den ersten Studentinnen weiblicher geworden, auch wenn beispielsweise Professuren noch immer lediglich zu rund 25 % mit Frauen besetzt sind und in zahlreichen naturwissenschaftlich-technischen Berufen Studentinnen selten anzutreffen sind. Die alten Griechen setzten andere Maßstäbe: Mit Athena, der Göttin der Weisheit und den Musen lag das Bildungsressort fest in weiblicher Hand. Das muss ja kein antiker Mythos bleiben.


Zum Weiterlesen und -forschen:

/// Freisinnig blättern wir morgen in alten Zeitungen und fördern Fortschrittliches zu Tage.

§ 218 – Stuttgarter Proteste für Else Kienle und Friedrich Wolf

Ein Kommentar

26. Februar 1931 | Ungewollt schwanger: Und jetzt? Die Betroffenen stecken in einer absoluten Ausnahmesituation, die weitreichende Entscheidungen abverlangt. Wer sich für eine Schwangerschaftsunterbrechung entscheidet, begeht gemäß § 218 eine Straftat. Straffreiheit garantiert allerdings die Fristenregelung, d.h. bis zur zwölften Schwangerschaftswoche kann die Unterbrechung durch Mediziner nach vorheriger Beratung vorgenommen werden sowie die Indikationsregelungen (wenn die Schwangerschaft gefährdet das körperliche wie seelische Wohl bzw. ist die Folge einer Vergewaltigung). Die heute gültigen Fassungen der §§ 218 und 219 – letztgenannter regelt die Beratungspflicht vor einer Abtreibung – stellen einen gesellschaftlichen Kompromiss dar, der von verschiedenen Seiten als faul, antiquiert, anti-emanzipatorisch beschrieben wird. Folglich branden wieder verstärkt Demonstrationen für die weibliche Selbstbestimmung („Mein Körper gehört mir“). Sie sehen sich oftmals mit kirchlich begründeten Bewegungen für den „Schutz des ungeborenen Lebens“ konfrontiert.

Der § 218 stammt noch aus Kaisers Zeiten und wurde seinerzeit mit aller Härte zur Anwendung gebracht. Besonders die wachsende Arbeiterklasse kam mit dem Gesetz in Konflikt. Fehlende Verhütungsmittel, unsichere und beengte Lebensverhältnisse – das alles trieb Frauen zur Abtreibung unter höchst gefährlichen Umständen, nicht selten mit tödlichen Ausgang. Eine solche Situation schildert der 1930 uraufgeführte Film „Cyankali“, der auf einem Theaterstück des Stuttgarter Arztes und Befürworter der Geburtenreglung, Friedrich Wolf, fußt. Er und die Stuttgarter Ärztin Else Kienle nahmen den Kampf für das medizinisch betreute Recht auf Abtreibung in der Weimarer Republik auf und sahen sich deshalb heftigsten Anfeindungen verschiedener konservativer Kreise ausgesetzt – im Besonderen Kienle, die selber Abtreibungen vornahm. Zugleich betonte Kienle immer wieder: „Ich bin genau wie Friedrich Wolf und wie jeder fühlende Mensch Gegner der sogenannten Abtreibung, hingegen Anhänger der Geburtenreglung.“

Des Volkes Stimme | § 218 – Stuttgarter Proteste für Else Kienle und Friedrich Wolf

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Am 19. Februar 1931 wurden Wolf und Kienle zunächst ohne Begründung verhaftet. Besonders innerhalb der kommunistischen Bewegung regte sich heftiger Protest: Am 26. Februar zogen mehrere tausend Menschen durch die Stuttgarter Straßen und fordert vehement die Freilassung der beiden. „Kulturbolschewistische Gedankengänge“ seien in den Demovorträgen zu hören gewesen, ist in einem Polizeispitzelbericht zu lesen. In jenen Jahren trat die KPD als einzige deutsche Partei in Reichstag für eine vorbehaltlose Abschaffung des § 218 ein – „Die Proletarierin ist keine Gebärmaschine!“, mahnte der KPD-Abgeordnete Edwin Hörnle. Während Wolf schnell gegen Kaution freikam, wurde Else Kienle erst Ende März freigelassen, nachdem sie in den Hungerstreik getreten war, der beinahe den Tod der 31-Jährigen nach sich gezogen hätte. Die beiden Aktivisten traten in den Folgemonaten auf zahlreichen Kundgebungen auf und reisten im Mai 1931 sogar in die UdSSR, wo Schwangerschaftsunterbrechungen legal waren und medizinisch betreut durchgeführt wurden – ein Unikum zu jener Zeit.

Der aktuelle Fall der Gießener Ärztin Kristina Hänel, die sich wegen des gemäß § 219 verbotenen Werbeverbots für Schwangerschafts-unterbrechungen vor Gericht verantworten musste, lassen Friedrich Wolfs Gedanken von 1931 allzu utopisch erscheinen : „Das alles wird vorübergehen, nach 20 Jahren wird man an den § 218 denken, wie an einen unmöglichen Traum.“


Zum Weiterlesen und -schauen:

  • Else Kienle: Frauen. Aus dem Tagebuch einer Ärztin, Stuttgart 1989 (Neuauflage des Originals von 1932).
  • Projekt Zeitgeschichte im Kulturamt der Landeshauptstadt Stuttgart (Hg.): Ausstellungsreihe Stuttgart im Dritten Reich. Friedrich Wolf. Die Jahre in Stuttgart 1927 – 1933. Ein Beispiel, Stuttgart 1983.
  • Michael Kienzle/Dirk Mende: Dr. Friedrich Wolf, Stuttgart, Zeppelinstraße 43, Marbach 1992.
  • Hans Tintner/Jurij Kramer: Cyankali (1930/1977) [DVD], Berlin: Atlantis Film GmbH/Fernsehen der DDR [Neuauflage in der Edition Filmmuseum Potsdam].

/// Vor 171 Jahren wurde Demokratie eingefordert – mehr dazu bereits morgen!

 

Geschichte wird aufgearbeitet – der „Russenfriedhof“ in Biberach

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23. Februar 1985 | Die Stille eines besonderen Friedhofs schrie Anfang der 1980er Jahre förmlich nach einer Wende zum Besseren. Seit seiner Einrichtung im Jahre 1950 lag die im Volksmund als „Russenfriedhof“ benannte Kriegsgräberstätte weitgehend unbeachtet und ungepflegt dar. 614 Sowjetbürgerinnen und -bürger hatten hier ihre letzte Ruhestätte gefunden: Als Kriegsgefangene und verschleppte Zivilisten waren sie in Folge von Zwangsarbeit und unmenschlicher Behandlung zu Tode gekommen.

Ein neuer Geist zeigte sich mit der Friedensbewegung, die in den 1980er Jahren auch im oberschwäbischen Biberach aktiv war. Berthold Seeger, damaliger Geschäftsführer der katholischen Friedensinitiative Pax Christi in der Diözese Rottenburg-Stuttgart, sah mit seiner Biberacher Ortsgruppe die Versöhnungsarbeit mit der Sowjetunion, Polen und anderen osteuropäischen Staaten als zentrale Herausforderung an. Schnell rückte die Kriegsgräberstätte als lokaler Bezugsort ins Gedächtnis der Aktiven.

 

Den erinnerungsgeschichtlichen Stein brachte zudem die Geschichts-AG der Dollinger Realschule ins Rollen. „Unbewältigte Zeitgeschichte“ lautete das Thema des Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten im Schuljahr 1982/83. Die SchülerInnen Stefan Blum, Thomas Haag und Heidi Perchner nahmen gemeinsam mit dem Lehrer Reinhold Adler die sowjetische Kriegsgräberstätte unter die Lupe. Die jungen HistorikerInnen in spe setzten sich weiterhin dafür ein, die kyrillische Inschrift auf dem Gedenkstein um eine deutsche Übersetzung zu ergänzen.

Zugleich wirkten die Initiative „Ohne Rüstung leben“ und Pax Christi darauf hin, dass Biberach eine Städtepartnerschaft mit Teladi (heute in Georgien) einging. Die anlaufende Perestroika-Politik in der Sowjetunion machte fortan vieles möglich, was vorher undenkbar erschien. Während 1967 das geplante Aufstellen eines russisch-orthodoxen Kreuzes auf der Kriegsgräberstätte noch seitens deutscher Behörden als zu provokativ für die sowjetische Seite abgelehnt worden war, startete Pax Christi 1985 einen neuen, nunmehr erfolgreichen Anlauf. Passenderweise, so Berthold Seeger, konnte man den Besuch des Patriarchen der Georgischen Orthodoxen Kirche in Biberach in das Gebetsgedenken anlässlich der Aufstellung des Kreuzes einbetten.

Es folgten Besuche der Pax Christi-Aktiven in Moskau 1987 sowie „Russische Wochen“ in Biberach, um der Geschichte der 614 (noch) namenlos begrabenen Sowjetmenschen zu gedenken. Sogar in der sowjetischen Tageszeitung Isvestija erschien 1989 ein Artikel über die Biberacher Aktivitäten. 570 Toten erhielten 1991 ihre Namen zurück: Die aufgestellten Plaketten waren durch Spenden der Biberacher Bürgerschaft finanziert worden.

Besonders danken möchten wir Herrn Berthold Seeger für die schriftlichen Auskünfte, dem Stadtarchiv Biberach für Archivgut sowie dem Biberacher Friedensbündnis für die Vermittlung von Kontakten.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Reinhold Adler/Joachim Guderlei: Ein Friedhof der Namenlosen in Biberach. Zur Entstehung des Friedhofs für sowjetische Soldaten und Zwangsarbeiterinnen, in: Zeit und Heimat. Beiträge zur Geschichte, Kunst und Kultur von Stadt und Kreis Biberach 32. Jg. (1989), H. 2, S. 49-57.
  • Ulrike Puvogel/u.a.: Gedenkstätten für die Opfer des NS. Eine Dokumentation, Bd. I, Bonn 1995, S. 24.
  • Hans-Otto Binders: „Biberach von 1945 bis zur Mitte der sechziger Jahre“, in: Dieter Stievermann/u.a. (Hgg.): Geschichte der Stadt Biberach, Stgt. 1991, S. 603-646, hier S. 632f..
  • Bestände des Stadtarchiv Biberach (u.a.): L 20 Adler, Reinhold;  G 43 Bauverwaltungsamt.

/// Seit Jahrzehnten heiß umkämpft und diskutiert. Was, das erfahren Sie am 23. Februar in unserem Onlinekalender.

Nai hämmer g’sait – das AKW-Baugeländes Wyhl wird besetzt

10 Kommentare

18. Februar 1975 | Viele Menschen im südbadischen Wyhl am Rhein und in Marckolsheim im Elsass waren Mitte der 1970er Jahren überzeugt: Vor Ort stellt sich die Frage nach „Pest oder Cholera“ schon nicht mehr. Ihre Behörden und Regierungen hatten sich einfach für beides entschieden. Im September 1974 startete ein Münchner Chemiekonzern in Marckolsheim mit dem Bau eines Bleichemiewerks. Allerdings wurde der Bauplatz umgehend von Umweltbewegten links und rechts des Rheins besetzt, die unter anderem ein „Freundschaftshaus“ einrichteten und den Protest am Laufen hielten.

Plakat "Nai hämmer gsait!"
Plakat „Nai hämmer gsait!“ Bild: Haus der Geschichte

Am 17. Februar 1975 rollten in Wyhl die Baumaschinen an, um mit dem Bau eines Kernkraftwerks zu beginnen. Diese (und andere) müssten gebaut werden, sonst gingen noch vor 1980 die Lichter aus, wie der baden-württem-bergische Ministerpräsident Hans Karl Filbinger eindringlich warnte. Zunächst gingen jedoch die Motoren der Maschinen aus, nachdem hauptsächlich Hausfrauen sich am 18. Februar wütend den Bauarbeitern entgegengestellt hatten. Der weiblichen Avantgarde folgten die Männer: Gerd Auer erinnert sich als Zeitzeuge, wie Aktivisten sich an einen Kran klammerten und diesen letztendlich Schachmatt setzten. Zelte wurden aufgestellt, es wurde gekocht, diskutiert. Die angerückte Polizei beschränkte sich auf das Fotografieren der Besetzenden sowie auf das Ausstellen von hohen Geldstrafen. Während am Folgetag lokale CDU-Politiker wie Hermann Person noch den Dialog suchten, erregte Filbinger mit seiner These, dass die Proteste in Wyhl von bundesweit organisierten Extremisten gesteuert werden würden, massiven Unmut. Sogar einzelne Ortsverbände der CDU warfen dem Landeschef Kurzsichtigkeit vor. Auf Protestschildern tauchte immer häufiger eine Klarstellung der eher konservativ-wählenden Bevölkerung um Wyhl auf: „Ihr Stuttgarter Herre, gän blo acht, daß ihr üs Kaiserstühler keini Radikali macht!“

Am 20. Februar wurden die 150 Besetzenden gewaltsam mit Wasserwerfern von der Baustelle vertrieben. Männer hätten geweint, erinnert sich Annemarie Sacherer an die Ausnahmesituation. Doch der Kampfgeist war damit nicht gebrochen. Zahlreiche Bürger- und Umweltinitiativen blieben standhaft, das Gelände wurde erneut besetzt und mit umweltpolitischen Leben erfüllt. Zeitzeuge Walter Mossmann warnt allerdings davor, den Protest zu harmonisch zu zeichnen und die internen Spannungen nachträglich zu verwischen. In manchen Punkten habe Einigkeit bestanden, jedoch keine Einheitlichkeit. Erfolgreich waren sie, die CDU-Mitglieder und Linken, die Winzer und Hausfrauen, die Umweltschützenden und Schöpfungsbewahrer, am Ende doch. 1977 wurde der Bau eingestellt und Wyhl trat die Karriere als Mythos und Ikone der Umweltbewegung an.

Ach ja, die Lichter gingen nicht aus.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Archiv der Badisch-Elsässischen Bürgerinitiativen: Wyhl.
  • Mitwelt.de: Umfassende Dokumentation zu Wyhl, bspw. zu den Protestplakaten jener Jahre.
  • Hanno Hurth/Gerhard A. Auer (Hg.): Siebenunddreißig Wyhl-Geschichten, Emmendingen 2014.
  • Bernd Nössler/Margret de Witt (Hg.): Wyhl. Kein Kernkraftwerk in Wyhl und auch sonst nirgends. Betroffene Bürger berichten, Freiburg 1976.
  • Nina Gladitz (Hg.): Lieber aktiv als radioaktiv. Wyhler Bauern erzählen. Warum Kernkraftwerke schädlich sind. Wie man eine Bürgerinitiative macht und sich dabei verändert, Berlin 1976.
  • Manfred Richter: Bürger, helft Euch selbst. Wyhl – ein Beispiel. Ein Fotodokument, Reinach 2015.

/// Eine Stimme haben, auch in einer anderen Sprache: Am 20. Februar decken wir das nächste Kalenderblatt auf.

Nichts ging mehr – der sexy-mini-super-flower-pop-op-Streik 1974

Ein Kommentar

10. Februar 1974 | Die 70er, das war doch dieses sexy-mini-super-flower-pop-op-Jahrzehnt. Mit Willy Brandt war seit 1969 erstmals ein Sozialdemokrat Bundeskanzler und trotz Unkenrufen der auf die Oppositionsbank verbannten CDU/CSU war die Bundesrepublik nicht schlagartig untergegangen. Sogar die Müllabfuhr funktionierte. Noch, denn am 10. Februar 1974 passierte es: Die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes waren in den Streik getreten. Der Müll wurde nicht abgeholt, Busse und Straßenbahnen blieben in den Depots.

 

Weshalb war streiken plötzlich sexy geworden? Seit Anfang der 70er Jahre kletterte die jährliche Inflationsrate von 3,6 % (1970) auf den Rekordwert von 6,9 % (1974), die Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst wuchsen nur minimal. Das war super unbefriedigend. Auch in anderen Branchen rumorte es gewaltig: An den Basen verschiedener westdeutscher Gewerkschaften wuchs die Streikbereitschaft und wo die Gewerkschaftsbosse nicht schnell genug oder zu sozialpartnerschaftlich eingestellt waren, kam es mitunter zu „Wilden Streiks“.

Mittels empfindlicher Warnstreiks konnte die Gewerkschaft „Öffentliche Dienste, Transporte und Verkehr (ÖTV)“ die Zahlung eines 13. Monatsgehalts Ende 1973 durchsetzen. Zu wenig, wie schnell klar wurde. Und da sich mit Flower-Power nur unzureichend Rechnungen zahlen lassen, stieg unter anderem ÖTV-Chef Heinz Kluncker – Spitzname „Der Dicke“ – noch einmal in den Ring und forderte Lohnsteigerungen von 15 %. Willy Brandt nannte den Vorstoß „ungebührlich“, eine wenig populäre Haltung bei den Gewerkschaftlern. Es folgte ein opulenter dreitägiger Streik in der gesamten Bundesrepublik, unter anderem mit Schwerpunkten in Mannheim, Stuttgart, Karlsruhe und Ulm. Im Vergleich zum Streik von 2006 blieb er jedoch überschaubar.

11% - mindestens aber 170 DM mehr brachte der Streik ((Bildnachweis: ÖTV-Magazin Nr. 3 (1974), ver.di-Archiv Berlin).
11 % – mindestens aber 170 DM mehr brachte der Streik (Bildnachweis: ÖTV-Magazin Nr. 3 (1974), ver.di-Archiv Berlin).

Einige nahmen die Situation mit Humor: Einen „billigen Volksfeiertag“ nannte der Mannheimer Stadtoberrechtsdirektor Demke den Umstand, dass Falschparker nun keine Knöllchen von den streikenden Politessen zu erwarten hatten.

Doch hagelte es auch Kritik aus der Bevölkerung. Mit warmen Hintern sei gut streiken, zitierte der Reporter Rolf Winter einen 50-jährigen Arbeiter aus Stuttgart-Sillenbuch. Die ÖTV-Streikleitung erhielt Drohbriefe und -anrufe. Besonders alarmierend war der Anruf eines Mannes, der sich als NPD-Mitglied und Teil einer rechtsradikalen Anti-Streik-Gruppierung vorstellte: Er drohte dem Augsburger Streikleiter Erich Stepputat, ihn und seine Familie fertigzumachen.

Nach drei Tagen streiken standen als Ergebnis ein Lohnplus von 11 %, mindestens aber 170 DM fest. Kaum drei Monate später trat Willy Brandt zurück. Doch nicht Kluncker hatte ihn gestürzt, sondern der Ölpreisschock, die Guillaume-Affaire und innerparteiliche Querelen.

Unser Dank gilt Herrn Dr. Hartmut Simon, Leiter des ver.di-Archivs Berlin.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Rolf Winter: Nach Drohungen: Polizei schützt ÖTV-Funktionäre, in: Schwäbische Zeitung, 13. Feb. 1974, S. 3.
  • Rolf Winter: Die Gewerkschaft verliert an Sympathie, in: ebd.
  • Karl-Hein Stolberg/Dieter Mauer: In Mannheim und Ludwigshafen schlägt der Streik Wellen. Straßenbahnen stehen leer – Mülleimer laufen über, in: Mannheimer Morgen, 12. Feb. 1974, S. 11.
  • Walter Nachtmann: 100 Jahre ÖTV. Die Geschichte einer Gewerkschaft und ihrer Vorläuferorganisationen. Union, Frankfurt am Main 1996.

/// Am 12. Februar folgt unser nächster Eintrag. Ein außergewöhnlicher Minister gibt sich die Ehre.

„Karin fehlt“ – der längste Streik im öffentlichen Dienst seit 1949

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6. Februar 2006 | Sie sind ruppig oder einfühlsam, schweigsam oder gesprächig, sie lassen die Muskeln spielen und behalten auch in brenzligen Situationen einen kühlen Kopf. Sie stehen selten im Rampenlicht und sorgen doch täglich dafür, dass wir im Alltag nicht das Nachsehen haben. Es sind die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, die (auch) unseren Müll entsorgen, die Straßen abstreuen, in Kindergärten den Nachwuchs umsorgen, in Krankenhäusern pflegen – die Liste ließe sich noch weiterführen.

Des Volkes Stimme | „Karin fehlt“ – der längste Streik im öffentlichen Dienst seit 1949

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Anfang 2006 stanken den kommunalen MüllkutscherInnen nicht nur der Abfall und den KindergärtnerInnen mehr als das „Geschäft“ ihrer Schützlinge: Deutschlandweit versuchten Kommunen, ihre klammen Kassen zu entlasten, indem sie die Wochenarbeitszeit von 38,5 auf 40 Stunden heraufschrauben wollten. Dies war für die Beschäftigten zu viel: Seit 1990 waren rund zwei Millionen ihrer Kolleginnen und Kollegen „abgebaut“ worden und immer häufiger wurden kommunale Aufgaben an private Firmen ausgelagert, was teilweise zu spürbaren Verschlechterungen in Sachen Entlohnung, Arbeitszeiten und -atmosphäre führte.

Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di rief nach zwei gescheiterten Verhandlungsrunden zum unbefristeten Streik auf, der Rekordausmaße annehmen sollte. Neun bzw. vierzehn Wochen lang legten Kommunal- und Landesbeschäftigte zwischen Mannheim und Ravensburg die Arbeit nieder, täglich beteiligten sich zwischen 7.000 und 14.000 Personen an den Streikaktionen. „Karin fehlt“ wurde zum Slogan des Streiks: Mehrarbeit bedeute eben auch, dass Beschäftigte eingespart werden sowie Arbeitslose und junge ArbeitsanwärterInnen keine Chance auf Einstellung erhalten, so ver.di.

Beide Seiten kämpften mit harten Bandagen. Einige Kommunen kritisierten, dass ver.di die zugesicherten Notdienstvereinbarungen wie beispielsweise die Müllentsorgung von Krankenhäusern oder eingeschränkten Winterdienst als Druckmittel missbrauchen würden. Die Gewerkschaft wiederum reagierte empört auf die Praxis einiger Städte wie Freiburg, Stuttgart oder Ulm, private Unternehmen als Streikbrecher mit der Müllentsorgung zu beauftragen. In Heidenheim rief der Fall eines 57-Jährigen Entsetzen hervor, der als Ein-Euro-Jobber beim Schneeschippen an einem Herzinfarkt verstarb – wie andere war er eingeteilt worden, um vom Streik betroffene Arbeiten zu übernehmen.

Hart umkämpft war zudem die öffentliche Meinung über den Streik. Dem aufkeimenden Unmut der betroffenen Bevölkerung – „Der Streik trifft die Falschen!“ – versuchte ver.di durch ein Bürgertelefon und durch direkte Ansprache Aufklärung entgegenzusetzen. Prominente wie die Rockröhre Nina Hagen oder die ehemalige Bundesjustizministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin solidarisierten sich mit dem Streik und mahnten, dass Steuersenkungen die Kassen von Ländern und Kommunen verhungern ließen und damit überhaupt erst die Arbeitszeiterhöhungen zum Thema gemacht hätten.

Am Ende stand die 39,5-Stundenwoche, ein Sieg mit Wermutstropfen für die Streikenden.

Unser Dank gilt Herrn Dr. Hartmut Simon, Leiter des ver.di-Archivs Berlin und ver.di BW.


Zum Weiterlesen und -forschen:

/// Geschichte wiederholt sich: Am 10. Februar nehmen wir erneut einen Streik in den Fokus.

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