Das Schweigen wird beendet – Louise Dittmar spricht öffentlich

Ein Kommentar

10. Mai 1847 | „Das Weib soll schweigen“ (1. Kor. 14, 34). An diesem Montag nahm das Schweigen endgültig ein Ende. In aller Öffentlichkeit sprach Louise Dittmar im Mannheimer „Montags-Verein“ über „vier Zeitfragen“. Ihr Auftritt war eine Sensation für das Publikum – „einige hundert Männer und Frauen, hörbegierig lauschend auf die seltenen Mut und liebenswürdige Schüchternheit und Bescheidenheit innig vereinende Sprecherin!“ („Mannheimer Abendzeitung“, 12. Mai 1847)

Des Volkes Stimme | Das Schweigen wird beendet - Louise Dittmar spricht öffentlich

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Die in 1807 in Darmstadt geborene Louise Dittmar hatte in den Jahren zuvor verschiedene Abhandlungen verfasst.  Auf ihr Essay „Skizzen und Briefe aus der Gegenwart“ folgten 1846 und 1847 die Schriften „Der Mensch und sein Gott in und außer dem Christenthum“ sowie „Lessing und Feuerbach“. Obwohl ihre Texte ohne Namensnennung erschienen waren, verbreitete sich schnell Dittmars Ruf einer kirchenkritischen Denkerin, die an der Religionskritik von Ludwig Feuerbach angelehnt, den herkömmlichen Gottesglauben hinterfragte. Ausdrücklich wurde sie im Mannheimer „Montags-Verein“ auch als eine entsprechende Autorin begrüßt.

Karl Scholl, der die einführenden Worte sprach, galt als einer der führenden Kräfte des Vereins. Der Prediger der neuen deutsch-katholischen Gemeinde in Mannheim hatte zusammen mit Amalie und Gustav Struve im Februar 1847 den „Montags-Verein“ gegründet. Dort sollten im Sinne der Aufklärung nicht nur religiöse, sondern auch sozial- und gesellschaftspolitische Fragen diskutiert werden. Allein die Beteiligung des Ehepaares Struve garantierte, dass die Veranstaltungen des Vereins prinzipiell offen für Frauen waren. Die Einladung an Louise Dittmar hob diese völlig ungewohnte Gleichberechtigung noch einmal auf ein neues Niveau. „Zum ersten Mal spricht eine Frau sich öffentlich über das aus, was sie unter Gewissensfreiheit versteht“, betonte Dittmar die historische Bedeutung. Entschlossen nutzte sie das Mannheimer Forum für ein überzeugendes Plädoyer für die Gleichberechtigung von Frauen: „Nicht eher wird die Menschheit einer harmonischen Fortentwicklung fähig werden, nicht eher werden jene rohen Triebe sich läutern und edleren Empfindungen Raum geben, bis man allen Teilen der Gesellschaft das Recht gestattet, sich auszusprechen, bis man auf alle Forderungen hört, und alle gegen einander abwägt!“

Der Mannheimer Vortrag war so erfolgreich, dass Dittmar ihn publizieren ließ – dieses Mal unter ihrem Namen.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Louise Dittmar: Vier Zeitfragen. Beantwortet in einer Versammlung des Mannheimer Montag-Vereins. Offenbach 1847.
  • Christina Klausmann: Louise Dittmar (1807-1884): Ergebnisse einer biographischen Spurensuche, in: Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Band 28 (1989), S. 17-39.

 

Schillerndes Gedenken – Wie ehrt man einen Dichterfürsten?

Ein Kommentar

9. Mai 1835 | Dass ausgerechnet diese Stadt ihm ein Denkmal errichten würde, hätte Friedrich Schiller zumindest belustigt. Als französische Truppen im Jahr 1796 in Stuttgart einmarschieren wollten, schrieb er an Johann Wolfgang von Goethe: „Ich kann das aber nicht glauben,  da (… ) es keinem Mensch, der bei Sinnen ist, einfallen kann, sich auch nur 3 Stunden darin halten zu wollen.“ Der gebürtige Marbacher sah in der Residenzstadt des 1793 gestorbenen Württembergischen Herzogs Carl Eugen ein Symbol für provinzielles Despotentum: Wie Recht er haben sollte, bewiesen die verhärmten Reaktionen der Obrigkeit auf Schillers Revoluzzer-Stück „Die Räuber“, das im Jahre 1781 uraufgeführt wurde und ihn letztendlich im darauffolgenden Jahr zur endgültigen Flucht aus Carl Eugens Schwabenreich zwang. Aus dem studierten Militärarzt der Württembergischen Armee wurde der epochenmachende Literat, der im thüringischen Weimar Seite an Seite mit Goethe lebte und wirkte – nicht ohne Heimweh, denn als Schwabe fühlte er sich stets.

In Wirklichkeit nur einmal vorhanden und nicht ganz so bunt: Das Stuttgarter Schillerdenkmal (Collage: Hemberger).
In Wirklichkeit nur einmal vorhanden und nicht ganz so bunt: Das Stuttgarter Schillerdenkmal (Collage: Hemberger).

Sein Tod am 9. Mai 1805 erschütterte das fortschrittliche Bürgertum in den deutschen Landen und entfachte umgehend die Diskussionen, wie der „Dichterfürst“ angemessen gewürdigt werden könnte. In Württemberg brachte die erste Stuttgarter Schillerfeier im Jahre 1825, ausgerichtet vom liberalen Stuttgarter Liederkranz, Bewegung in die Denkmalpläne. Deutschlandweit wurden Spenden gesammelt und der seiner Zeit begehrteste Bildhauer, Bertel Thorvaldsen, erklärte sich bereit, ohne Honorar das Standbild auszuführen. Als Standort wurde bewusst der Alte Schlossplatz (heute: Schillerplatz) gewählt, einen Steinwurf von der damaligen Residenz der Württembergischen Könige entfernt.

In der allgemeinen Schillerbegeisterung jener Jahre war die Gründung des Marbacher Schillervereins am 9. Mai 1835 ein weiterer Baustein, das Andenken und geistige Erbe Schillers systematisch zu fördern und zu sichern. Als am 8. Mai 1839 das Stuttgarter Denkmal mit einem großen Volksfest enthüllt wurde, sahen liberale Kreise darin ein Symbol des Sieges über den alten Despotismus. Verschnupft reagierten lediglich einige Marbacher, die sich laut dem Chronisten Hermann Kurz eine solche zentrale Gedenkstätte nur in Schillers Geburtsort vorstellen konnten: „Alles wollen sie  an sich ziehen! (…), und nun haben sie auch noch Den da!“ (Hermann Kurz, zitiert nach: Davidis, 150 Jahre Schiller-Denkmal, S. 11).

Doch die Marbacher zogen nach: 1859 richteten sie in Schillers Geburtshaus eine Gedenkstätte ein, 1876 folgte das obligatorische Denkmal und im Jahre 1903 schließlich das große Schiller-Museum, das heute ein Teil des Deutschen Literaturarchivs Marbach ist. Schiller für alle!


Zum Weiterlesen und -forschen:

„Denkmal in den Herzen“ – Die Erzberger-Gedenkfeier in Buttenhausen

Ein Kommentar

8. Mai 1927 | Unter „flotter Musik“ marschierten Reichsbannerleute aus Reutlingen und Ulm in das „sonst so stille Dörflein“ Buttenhausen ein, wie ein zeitgenössischer Beitrag im Münsinger „Alb-Boten“ nicht ohne Stolz verkündete. Ihr Ziel: Ein unscheinbares kleines Haus, in dessen vier Wänden eine zentrale Figur der jungen Weimarer Republik das Licht der Welt erblickt hatte. Am 20. September 1875 hineingeboren in einfache Verhältnisse, beschritt der Katholik Matthias Erzberger einen Lebensweg, der ihn politisch in die Reihen der Zentrumspartei führte,  die er ab 1903 im Reichstag als Abgeordneter vertrat. Erzberger eckte innerhalb seiner Fraktion des Öfteren an, beispielsweise wenn er Missstände in deutschen Afrikakolonien benannte. Zu Beginn des 1. Weltkriegs stimmte er in den Chor der Kriegsbefürworter ein, kam jedoch im Jahre 1916 zur Überzeugung, dass nur ein Verständigungsfrieden dem Deutschen Reich und den europäischen Staaten eine gerechte Zukunft werde sichern können.

Riesenandrang vor Erzbergers Geburtshaus bei der Gedenkveranstaltung des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold(Bildnachweis: Stadtarchiv Münsingen; Einfärbung.: HdG BW/Hemberger).
Riesenandrang vor Erzbergers Geburtshaus bei der Gedenkveranstaltung des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold (Bildnachweis: Stadtarchiv Münsingen; Einfärbung.: HdG BW/Hemberger).

Am 11. November 1918 setzte Erzberger im Eisenbahnwaggon bei Compiègne als Leiter der deutschen Delegation seine Unterschrift unter das Waffenstillstandsabkommen, und damit quasi unter sein eigenes Todesurteil. „Es gab kein Wort des Hasses und der Niedertracht, das ihm hierfür und später für seine Zustimmung zum Friedensvertrags erspart geblieben wäre“, erinnerte der Reutlinger Gemeinderat und Reichsbanner-Mitglied Hans Freytag in seiner Rede an Erzbergers Geburtshaus. Deutsch-völkische und rechtsradikale Gruppen schossen sich  auf den Republikaner ein, der ihnen als Vaterlandsverräter und Novemberverbrecher galt. Aus Worten wurden Patronen: In Bad Griesbach im Schwarzwald wurde Erzberger am 26. August 1921 ermordet, die rechtsextremistischen Täter konnten fliehen.

Die alte Gedenktafel an Matthias Erzbergers Geburtshaus in Buttenhausen (Aufnahme nach 1927).
Die alte Gedenktafel an Matthias Erzbergers Geburtshaus in Buttenhausen (Aufnahme nach 1927; Bildnachweis: HdGBW)

Mit der Enthüllung einer Gedenkplakette an Erzbergers Geburtshaus in Buttenhausen schuf der Reutlinger Ortsverband des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold (RB) mehr als einen einfachen Gedenkort. Das im Jahre 1924 gegründete Reichsbanner vereinte Mitglieder der SPD, der liberalen Deutsch-Demokratischen Partei und der katholischen Zentrums-partei zum gemeinsamen Schutz der Weimarer Republik und ihrer parlamentarischen Demokratie. Durch Gedenkfeiern, Fahnenappelle, Reden und einer demonstrativ gezeigten Geschlossenheit sollte der erstarkenden nationalsozialistischen Bewegung ein starkes Bollwerk entgegengesetzt werden. Erzberger würde heute in den Reihen des RB stehen, gab sich Freytag überzeugt und ein Vertreter der Zentrumspartei, Ortsgruppe Reutlingen, forderte neben dem Denkmal aus Erz, ein Denkmal in den Herzen aller. Die eiserne Gedenktafel wurde 1933 unter der Herrschaft Adolf Hitlers, der Erzberger bereits 1920 als „größten Lump“ verunglimpft hatte, abgehängt und in neuer Form erst 1971 wieder aufgehängt.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Erinnerungsstätte Matthias Erzberger: Homepage.
  • Haus der Geschichte Baden-Württemberg (Hrsg.):  Matthias Erzberger. Ein Wegbereiter der deutschen Demokratie. Buch zur Dauerausstellung der Erinnerungsstätte Matthias Erzberger in Münsingen-Buttenhausen, Stuttgart 2011.
  • Elena Müller: Demokratisches Gedenken: Die Erinnerung an Matthias Erzberger in Reutlingen, in: Reutlinger Geschichtsblätter 2018, Neue Folge Nr. 57, Reutlingen 2019, S. 175-199.

Liebe und Gerechtigkeit aus der Fabrik – Gustav Werner als Pionier der Sozialdiakonie

Ein Kommentar

7. Mai 1851 | „Die hießige Papierfabrik (…) stand seit zwei Jahren verlassen da, auf sie hatte ich schon längere Zeit mein Auge gerichtet; (…) Aber die steigende Noth in der Menschheit, die drohende Zukunft, die Mahnungen des Herrn drangen immer stärker auf mich ein, und ließen mir keine Ruhe; (…) am Pfingstmittwoch den 22. Mai schloß ich den Kauf rasch in einer frühen Morgenstunde ab, ohne auch nur meinen nächsten Freunden etwas davon zu sagen (…).“ (Gustav Werner in: „Der Friedensbote. Eine Zeitschrift für das Reich Gottes“, 1851, 2. Heft, S. 52-53).

Des Volkes Stimme | Liebe und Gerechtigkeit - Gustav Werners christliche Fabriken

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Werners Schilderungen, wie er im Morgengrauen vom Wanderprediger zum christlichen Fabrikbesitzer geworden war, gewähren nicht nur einen Einblick in das Seelenleben eines Einzelnen. Vielmehr spiegelt sich darin auch die Suche der Gesellschaft nach Antworten auf die „soziale Frage“. In Württemberg grassierten Hunger, Armut und Hoffnungslosigkeit in der Mitte des 19. Jahrhunderts besonders stark. Während in Baden Revolutionäre wie Hecker und das Ehepaar Struve tatkräftig für die Republik stritten und europaweit erste sozialistische Gruppierungen die Überwindung von Ungleichheit und Unterdrückung einforderten, wollte Gustav Werner seinen Mitmenschen einen gottgefälligen Weg zu Liebe und Gerechtigkeit ebnen. Er erkannte, dass Teilhabe an der Gesellschaft und individuelle Würde eng mit der eigenen Hände Arbeit verbunden ist.

Mit dem am 7. Mai 1851 in Reutlingen eingeweihten Bruderhaus, einer Hausgemeinschaft mit angeschlossener Papierfabrik, beabsichtigte er, das „Reich Gottes“ stückweise auf Erden erfahrbar zu machen. 130 Menschen fanden hier ihr Auskommen. Zugleich setzte Werner in der Frühphase voraus, dass sich die Arbeitenden als fromme Christenmenschen zeigten: „(…) ich weise auch fast immer Leute ab, welche bei mir Hilfe und Arbeit suchen und dabei vorwenden, daß sie meine Vorträge hören.“ (ebd., S. 74). Er persönlich erblickte in der Industrialisierung das Wirken Gottes und trieb die Expansion des Bruderhausvereins mit seinen „christlichen Fabriken“ energisch voran. Doch schon zwei Jahre später zeigten sich offensichtliche Probleme seines Modellversuchs: Die Fabrik war unrentabel, immer mehr Arbeitskräfte kamen von außen und waren nicht in der frommen Hausgemeinschaft organisiert. Der württembergische Staat musste im Jahre 1865 sogar Werners Unternehmen retten, doch nach der Ausgabe von Anteilsscheinen (Aktien) stellte sich eine relative Stabilität ein.

Besonders erwähnenswert ist der Umstand, dass Gustav Werner Menschen mit Behinderung, im damaligen Jargon „halbe Kräfte“ genannt, als selbstbewusste Arbeitskräfte ernst nahm und ihnen Arbeit gab. Die Gründung der „Gustav Werner-Stiftung zum Bruderhaus“ im Jahr 1882 setzte ein Ausrufungszeichen hinter die Idee der Integration von behinderten Menschen in den Alltag und wirkt bis heute fort.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • BruderhausDiakonie: Homepage der Stiftung Gustav Werner.
  • Hartmut Zweigle: „Herrschen mög‘ in unseren Kreise Liebe und Gerechtigkeit!“ Gustav Werner – Leben und Werk, Stuttgart 2009.

1968 auf oberschwäbisch – der „Venceremos“ erregt die Gemüter

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2. Mai 1969 | „Impotente Pauker“ kommen in den Genuss eines besonders günstigen Preises von 40 Pfennig: So stand es zumindest auf dem Cover der April/Mai-Ausgabe der Biberacher Schülerzeitung „Venceremos“ von 1969. Was dort auf dem Schulhof des örtlichen Wieland-Gymnasiums mit einer Auflage von 100 Exemplaren kursierte, war gedruckter Sprengstoff gegen die Werte und Moralvorstellungen der Elterngeneration. Mit der Losung „Durchstoßt das Sexualtabu“, einem kunstvoll gestalteten Penis und einem entspannt-nackten Teufelchen provozierten die jungen Herausgeber um Martin Heilig und Eckard (Ekke) Leupold von der Biberacher Außerparlamentarischen Opposition (APO) mit denkbar scharfen Mitteln. Um Skandale und neuartige Protestaktionen war die kleine, aber rührige APO in der oberschwäbischen Stadt nie verlegen gewesen. Gegründet im Zuge des Widerstandes gegen eine Wahlveranstaltung der neofaschistischen NPD im Frühjahr 1968, brachten die Mitglieder beispielsweise lautstark ihren Protest gegen Bundeskanzler Kurt Kiesinger und dessen Notstandsgesetze anlässlich seines Wahlkampfbesuchs am 22. April zu Gehör (und steckten dafür Prügel von anwesenden Biberacher Bürgern ein).

"Schweinkram, Pornografie" - so die Meinung zahlreicher erregter Bürgerinnen in Biberach im Jahre 1969 über die Schülerzeitung "Venceremos" (Bildnachweis: Stadtarchiv Biberach, Sig. L 16 Nr 6).
„Schweinkram, Pornografie“ – so die Meinung zahlreicher erregter BürgerInnen in Biberach im Jahre 1969 über die Schülerzeitung „Venceremos“ (Bildnachweis: Stadtarchiv Biberach, Sig. L 16 Nr 6).

Im Folgejahr wurde die örtliche Schülerschaft stärker als „revolutionäres Subjekt“ ins Auge gefasst: Der „Venceremos“ verband auf seinen hektografierten Seiten allgemeine Kapitalismuskritik mit Anprangerungen schulinterner Missstände, konservativer Lehrer und überholter Lehrmethoden. Das Echo auf die April/Mai-Ausgabe blieb jedoch beispielslos in der kurzen Geschichte des Blattes, wie der Historiker Frank Brunecker vom Museum Biberach nachzeichnete. Nach einer Anzeige kam es zu Hausdurchsuchungen bei den Verantwortlichen, der Elternbeirat verdammte das „pornographische“ Machwerk und die lokale Presse veröffentlichte wütende Artikel und Leserbriefe, die ein hartes Vorgehen gegen die „perversen Schweinereien einer Schülerclique“ forderten. Vor der Veröffentlichung hatte Ekke bereits fest mit einer Anzeige gerechnet, was ihm jedoch „scheißegal“ gewesen sei.

Die Fotografin Marga Schwoerbel dokumentierte lebhaft die Demo zum "Venceremos"-Prozess im Januar 1970 (Bildnachweis: Stadtarchiv Biberach, Sig. M 10.1 Nr. 4216, Aufnahme: Marga Schwoerbel).
Die Fotografin Marga Schwoerbel dokumentierte die bewegte Demo zum „Venceremos“-Prozess im Januar 1970 (Bildnachweis: Stadtarchiv Biberach, Sig. M 10.1 Nr. 4216, Aufnahme: Marga Schwoerbel).

Im Januar 1970 kam es zum sogenannten „Venceremos“-Prozess gegen Ekke, Oswald Schmid und Ulrich Weitz, nicht ohne vorherigen lautstarken Protest von APO-Mitgliedern und Sympathisanten am 13. Januar. Vor Gericht entgegnete der angeklagte Ulrich Weitz auf die Vorwürfe der Verbreitung pornografischer Schriften:

„Pornographie ist das, was die Bürger daheim in ihren Nachttischen haben, das ihnen Spaß macht (…) – nirgendwo in der Provinz hat man so viel Angst vor der APO wie hier in Biberach. Gewisse Leute haben also unsere Gefährlichkeit erkannt, und zwar nicht auf dem kriminellen, sondern dem politische Gebiet. Es ist ja ganz klar, dass wir genau das Gegenteil wollen von dem, was Pornographie ist. Wir sind eigentlich viel moralischer als diese Leute, moralischer im natürlichen Sinne.“ (zitiert nach Brunecker, 1968, S. 103f.)

Überraschend wurden die Angeklagten freigesprochen und der angedachte Schulverweis ebenso fallengelassen. Die Biberacher APO hatte über die „Spießermoral“ gesiegt, zugleich einer ihrer letzten Erfolge, denn die Bewegung zerbrach rasch.

(Wir danken dem Stadtarchiv Biberach sowie Frau Schwoerbel für die freundliche Bereitstellung des Archivmaterials).


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Frank Brunecker: 1968, Biberach 2018.
  • Haus der Geschichte Baden-Württemberg (Hrsg.): … Denn die Zeiten ändern sich. Die 60er Jahre in Baden-Württemberg, Stuttgart 2017.

Musen für Mannheim – Fritz Wichert versammelt die Freunde der Kunst

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27. April 1911 | Sie wollen die Musen, die neun mythologischen Schutzgöttinnen der Kunst aufsuchen? Menschen der Antike hätten Ihnen empfohlen, am Berg Helikon in der Region Boiotien (Mittelgriechenland) nach den Töchtern Zeus zu suchen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bemühten sich führende Mannheimer Kreise um die Einbürgerung der Musen in die blühende Industrie- und Handelsstadt an Rhein und Neckar:  Anlässlich des 300. Stadtjubiläums im Jahre 1907 konnte die städtische Kunsthalle als exklusiver Musentempel eröffnet werden. Der Kunsthistoriker Fritz Wichert übernahm zwei Jahre später das Amt des Direktors. Unter seiner Regie wurden damals hochmoderne museums- und ausstellungspädagogische Konzepte praktisch umgesetzt und der zeitgenössischen Kunst eine tragende Rolle zugesprochen. So konnten Mannheimer Kunstfreunde beispielsweise das großformatigen Historiengemälde „Die Erschießung Kaiser Maximilians von Mexiko“ des impressionistischen Malers Édouard Manet bestaunen. Dass Wichert die Kunst des „Erzfeinds“ (Manet war Franzose) nach Mannheim geholt hatte, erzürnte sogleich deutsch-nationale Kreise in der Quadratestadt.

 

Fritz Wichert wollte zudem  die Sesshaftigkeit der Kunst in Mannheim weiter vertiefen. Zu diesem Zweck gründete er am 27. April 1911 den „Freien Bund zur Einbürgerung der bildenden Kunst in Mannheim“, der noch im ersten Jahr seines Bestehens auf die stattliche Zahl von 1.000 Mitgliedern verweisen konnte. In seiner grundlegenden Schrift über die Geschichte des Freien Bundes betont der Historiker Jenns Eric Howaldt, dass sich die Organisation selber „als Massenbewegung, die mit den Bildungsbestrebungen der Arbeiterbewegung im Einklang steht“ verstand. Seit 1861 existierte der Mannheimer Arbeiter-Bildungs-Verein als Teil der Emanzipationsbewegung der Arbeiterklasse. Mit einer „Akademie für Jedermann“, Vorträgen, einer Kunstberatungsstelle und günstigen Repliken bekannter Kunstwerke für die Wohnstube sollte der bildenden Kunst der elitärer Charakter genommen werden, zum Nutzen und zur Erbauung aller Volksschichten und -klassen dienstbar gemacht werden.

Kunst für Jedermann, auch für die jüngsten: Wichert mit seinem Sohn Jan auf dem Balkon seiner ersten Mannheimer Wohnung, 1909/10(Bildnachweis: Marchivum, Sig. AB01481-004; teilw. Ausbesserung: HdG BW/Hemberger).
Kunst für Jedermann, auch für die Jüngsten: Wichert mit seinem Sohn Jan auf dem Balkon seiner ersten Mannheimer Wohnung, 1909/10 (Bildnachweis: MARCHIVUM Mannheim, Sig. AB01481-004; teilw. Ausbesserung: HdG BW/Hemberger).

Stolz verkündete Wichert in seiner Rede zur Eröffnung der „Akademie für Jedermann“ am 21. Januar 1912, dass der „freie Bund“ eine regelrechte „Volksbewegung“ geworden sei, die in ganz Deutschland mit Bewunderung genannt werde. Tatsächlich zählte der Verein im Jahre 1914 rund 7.000 Mitglieder und die Kunsthalle etablierte sich als gefragter Ausstellungsraum für die (damals) moderne Kunst. Unter dem seit 1923 als Direktor tätigen Gustav F. Hartlaub wurde eine umfassende Sammlung von Werken des Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit zusammentragen. Die „Mannheimer Bewegung“ setzte Maßstäbe.

Seit Juni 2018 steht neben der Kunsthalle von 1907 ein nagelneuer Anbau. Wenn Sie es also nicht nach Griechenland schaffen sollten: Die Mannheimer Musen freuen sich ebenfalls über einen Besuch.

 


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Jenns Eric Howoldt:  Der Freie Bund zur Einbürgerung der bildenden Kunst in Mannheim. Kommunale Kunstpolitik einer Industriestadt am Beispiel der «Mannheimer Bewegung», Frankfurt a. Main/Bern 1982.
  • Christmut Präger: „Zur vollen Macht und Reife der Großstadt“, in: Ulrich Nieß/Michael Caroli (Hgg.): Geschichte der Stadt Mannheim, Bd. II: 1801 – 1914, Heidelberg/u.a. 2007, S. 628- 685, hier S. 638-644.
  • Leo BW: Kurzbiografie zu Fritz Wichert.
  • Kunsthalle Mannheim: Homepage.

/// Am 2. Mai kümmern wir uns um „Schweinkram“!

AIDS hat keine Chance – die AIDS-Hilfe Baden-Württemberg nimmt den Kampf auf

Ein Kommentar

25. April 1987 | Die Resonanz war verhalten, wie Martin Gauly, Mitglied der AIDS-Initiative Karlsruhe, bedauernd einräumte: „Die Bevölkerung ist vorläufig noch in Panikstimmung, Ängste herrschen vor, man traut sich nicht an das Problem heran.“ (Badische Neueste Nachrichten, 27.04.1987, S. 10). Zumeist Jugendliche seien zaghaft an den Stand der aufklärenden Aktiven am Europaplatz herangetreten und hätten das Gespräch an diesem ersten Landesaktionstag am 25. April 1987 gesucht.

 

Das schwache Echo kann wohl nicht am Engagement der AIDS-Hilfegruppen in Baden-Württemberg gelegen haben: Am 21. März 1987 hatten die bestehenden Stellen in Freiburg, Heidelberg, Karlsruhe, Konstanz, Mannheim, Pforzheim, Tübingen, Stuttgart und dem Unterland die Gründung eines Landesverbands beschlossen. Ziel war es, bestehende Erfahrungen, Kräfte und Ressourcen zu bündeln, um noch besser in der Öffentlichkeit als Ansprechpartner für Betroffene wie Nicht-Betroffene wahrgenommen zu werden. Dies war bitter nötig, denn auch fünf Jahre nach der Diagnose des ersten Falles der Immunschwäche-Krankheit in der Bundesrepublik waren Unwissenheit über die Übertragungswege, Stigmatisierung der Erkrankten („Schwulen-Seuche“) und fehlende Heilungsmethoden der Nährboden für sowohl medial geschürte Panik als auch für eine gefährliche Ist-mir-egal-Haltung.

 

In baden-württembergischen Großstädten entstanden Selbsthilfeorganisationen, die Homosexuelle, Prostituierte und Drogenabhängige gleichermaßen wie Heterosexuelle und SchülerInnen ansprechen wollten: Wie benutzt man Kondome richtig? Ist AIDS durch Küssen übertragbar? Während die Aktiven Antworten auf solch grundlegende Antworten zu geben versuchten, schwankte der Umgang politisch Verantwortlicher mit dem Thema zwischen Unterstützung der Hilfsgruppen bis hin zu Forderungen nach Isolation von Menschen mit dem HI-Virus, wie sie der bayrische Staatssekretär Peter Gauweiler im Jahre 1987 vertrat.

In Baden-Württemberg positionierte sich Barbara Schäfer (CDU), Ministerin für Arbeit, Gesundheit, Familie und Sozialordnung, klar gegen diesen Kurs. Sie wolle entschieden gegen jegliche soziale Diskriminierung von AIDS-Infizierten in der Gesellschaft vorgehen, stellte die Ministerin in einer von den GRÜNEN beantragten Aktuellen Debatte des Landtags am 11. März 1987 klar. Damals wurden im Land 70 AIDS-Patienten gezählt, 34 davon waren bereits verstorben. Die GRÜNEN drängten auf mehr Fördermittel für die Hilfsgruppen im Land, die SPD forderte, dass das Vertrauen von Betroffenen in den staatlichen Apparat gestärkt werden solle und die FDP/DVP sprach die schwierige Lage von AIDS-Kranken im Strafvollzug an.

Über die Jahrzehnte hat sich die AIDS-Hilfe Baden-Württemberg als starke Interessenvertretung erwiesen. Mit Aktionen wie der Verleihung des PositHIV-Preises an Personen, die sich um die Wahrung der Belange HIV-Infizierter verdient gemacht haben, gelingt es der Vereinigung, in Zeiten verbesserter medizinischer Versorgung der Erkrankten auf die bestehenden Gefahren der Krankheit hinzuweisen.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • AIDS-Hilfe Baden-Württemberg: Homepage.
  • Protokoll der Aktuellen Debatte zur Situation der an AIDS Erkrankten (…), 67. Sitzung, 11.03.1987, in: Landtag BW, Protokolle, 1986-1987, Bd. 6, S. 5441-5453: Onlineversion.
  • Deutsche AIDS-Hilfe: Umfassendes Onlinearchiv – Digitalisate seit der Gründung des Vereins.

/// Das Streben nach dem „Wahren, Schönen, Guten“ steht am 27. April in unserem Onlinekalender im Mittelpunkt.

Gebildet in der Kneipe – der Mannheimer Arbeiter-Bildungs-Verein

3 Kommentare

23. April 1861 | Eine Kneipe als Hort der Bildung? Statt Gesprächen auf Stammtischniveau geistige Konversationen? Warum nicht! Als am 23. April 1861 in der Gastwirtschaft „Halber Mond“ in den Mannheimer Quadraten der Arbeiter-Bildungs-Verein gegründet wurde, war dies ein deutliches Signal des Bildungs- und Emanzipationshungers des Proletariats an Rhein und Neckar.

In der Mitte des 19. Jahrhunderts brachen sich massive wirtschaftliche und soziale Veränderungen auf deutschem Boden die Bahn. Städte wie „Monnem“ (Mannheim) entwickelten sich von handwerklich geprägten Siedlungen zu Zentren des industriellen Fortschritts. Mit den Schornsteinen und Fabrikhallen wuchs die Zahl derer, die ihre Arbeitskraft in Zehn- oder Zwölfstundenschichten an die Unternehmerschaft verkauften und fortlaufend Mehrwert für diese erarbeiteten. In der Zeit des Vormärz (1830 bis 1848) wuchs unter Handwerkern und ArbeiterInnen, allen voran in den deutschen Ländern, in Belgien, der Schweiz, Frankreich und England das Bedürfnis, sich zusammenzuschließen, die Interessen ihrer Klasse zu vertreten und den eigenen Lebensstandard zu verbessern.

Eichelsdörfer wusste: Der Bildungshunger der Massen muss gestillt werden (Bildnachweis: Generallandesarchiv Karlsruhe; Bearb.: HdG BW/Hemberger).
Eichelsdörfer wusste: Der Bildungshunger der Massen muss gestillt werden (Bildnachweis: Generallandesarchiv Karlsruhe; Einfärbung.: HdG BW/Hemberger).

Radikale sozialistische Vordenker wie Wilhelm Weitling, Karl Marx und Friedrich Engels setzten sich in solchen Vereinigungen wie dem „Bund der Gerechten“ (ab 1847 „Bund der Kommunisten“) dafür ein, nicht nur ein Stück vom guten Leben, sondern den ganzen Kuchen zu erobern. Dies bedeutete auch, durch Selbstbildung das theoretische Handwerkszeug für die politische Revolution zu erlangen. In Mannheim hatten sich zwischen 1844 und 1847 Handwerker und Gesellen zu einem Verein zusammengeschlossen; deutschlandweit bündelte der Dachverband „Allgemeine deutsche Arbeiterverbrüderung“ die verschiedenen Bildungsvereine der aufstrebenden Klasse. Nach der misslungenen Revolution von 1848/49 wälzte sich eine Verbotswelle durch die Länder, der auch der 1848 wieder aufgeblühte Mannheimer Verein zum Opfer fiel. Der Hunger nach Bildung und politischer Mitbestimmung war allerdings so groß, dass die Arbeiterbewegung rasch die Durststrecke überwinden konnte.

Der gelernte Schuhmacher Johann Peter Eichelsdörfer war in Mannheim eine treibende Kraft bei der Gründung des Arbeiter-Bildungs-Vereins im Jahre 1861, dem ersten dieser Art in Baden. Während sich in Leipzig im Jahre 1863 mit dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) unter der Führung Ferdinand Lassalles eine politische Partei bildete, fand sich in Frankfurt am Main am 7. Juni desselben Jahres der „Verband deutscher Arbeitervereine“ zusammen. An der Zusammenkunft zahlreicher Arbeiter-Bildungsvereine, auch liberaler Prägung, nahm Eichelsdörfer teil.  Er forderte in seiner Rede den Unterricht in „Elementargegenständen“ wie Lesen, Buchhaltung, Warenkunde, aber auch sittlichen Unterricht. Konsequent wurde in der Abschlussresolution die „geistig[e], politisch[e], bürgerlich[e] und wirtschaftlich[e] Hebung des Arbeiterstandes“ als Ziel ausgegeben.

„Wissen ist Macht“, betonte der Sozialist Wilhelm Liebknecht, der selber in den 1840ern Volksschullehrer im Schweizer Exil gewesen war. In Mannheim eroberten sie diese Macht seit 1861 Seite um Seite, Vortrag für Vortrag – nicht nur im „Halben Mond“.


Zum Weiterlesen und -forschen:

/// Um Aufklärung anderer Art war ein Verband mehr als 120 Jahre später bemüht. Lesen Sie am 25. April mehr zu diesem Thema.

Im Zeichen der Biene – in Alfdorf entsteht der erste Landfrauenverein nach 1945

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20. April 1946 | Die Biene steht für Fleiß und Gemeinschaftssinn, für harte Arbeit und das Leben in der Natur. Nicht zuletzt deshalb ist die geflügelte Sympathieträgerin seit über einhundert Jahren selbstgewähltes Symbol der Landfrauen. Elisabet Boehm legte im Jahre 1898 in Ostpreußen mit ihrem „Landwirtschaftlichen Hausfrauenverein“ den Grundstein einer Bewegung, die vielen Frauen neue Möglichkeiten eröffnete. Boehm setzte nicht nur auf Weiterbildung, sondern förderte auch die Vermarktung landwirtschaftlicher Produkte in eigenen Verkaufsstellen – was Frauen erstmals erlaubte, selbst ein Einkommen zu erzielen. Nach der Machtübernahme der NSDAP befürwortete Boehm jedoch auch die Aufnahme der Landfrauen in den die NS-Ideologie vertretenden Reichsnährstand.  Ein Teil der bisherigen Mitglieder zog sich bewusst in die innere Emigration zurück oder trat aus.

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Nach Ende des Zweiten Weltkriegs musste daher eine neue Landfrauenbewegung unter einem neuen Namen entstehen. Die amerikanische Besatzungsmacht unterstützte diesen Prozess aktiv im Rahmen der „Re-education“. Im kleinen Alfdorf bei Schwäbisch Gmünd gründete Margarethe Freifrau vom Holtz gemeinsam mit Marie-Luise Gräfin Leutrum von Ertingen und anderen Aktivistinnen am 20. April 1946 den ersten „Landfrauenverein“ im damaligen Württemberg-Baden. Jede Frau im Dorf ansprechen, von der Bäuerin bis zur Pfarrersfrau, explizit auch die Frauen der Arbeiter – diesen Grundsatz schrieb Marie-Luise Gräfin Leutrum von Ertingen den Alfdorferinnen bei einem Besuch im November 1946 buchstäblich ins Stamm- beziehungsweise Gästebuch. Leutrum reiste in dieser Zeit unentwegt durch das Ländle und animierte Frauen zur Gründung von Ortsvereinen; im Folgejahr gelang es ihr, den Landfrauenverband Württemberg-Baden ins Leben zu rufen, dessen Vorsitzende sie wurde. Der LandFrauenverband Württemberg-Baden ist der erste Landesverband der Landfrauen in den westlichen Besatzungszonen. Kurz darauf initiierte Gräfin Leutrum die Gründung des Deutschen Landfrauenverbandes, der ein Jahr später in Bonn – Bad Godesberg gegründet wurde. Gräfin Leutrum wurde zur ersten Präsidentin des Deutschen LandFrauenverbandes gewählt.

Seit der Neugründung in der Nachkriegszeit hat sich das Profil des Landfrauenverbands abermals gewandelt. Statt für Frauen einzutreten, die hauptsächlich in landwirtschaftlich geprägten Umfeldern („Haus und Hof“) tätig sind, stehen nun Frauen auf dem Land im Mittelpunkt der Aktivität. In den 1980ern regte der Landesverband grundlegende Diskussionen zu den Themen Heimat und Zukunft des ländlichen Raumes an. Mit eigenständigen Seminaren soll Frauen der Weg in die Kommunalpolitik geebnet und mit Nachdruck der Wert weiblicher Tätigkeit in Beruf und Familie öffentlich betont werden. Dabei machen die Aktivistinnen nicht vor Ländergrenzen halt: Anfang der 1990er Jahre bildeten sich Kontakte zu Frauenvereinigungen im Baltikum sowie in verschiedenen afrikanischen Staaten aus. Seit 2005 unterstützt der Landesverband Selbsthilfeprojekte in Kenia, mit denen unter anderem das Auskommen verwitweter Frauen und verwaister Mädchen gesichert werden sollen.

LandFrauen von heute ziehen erfolgreich Honig aus ihrer Herkunft und bieten einen Blumenstrauß voller Ideen und Projekte.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • LandFrauenverband Baden-Württemberg: Homepage.
  • Anke Sawahn: Die Frauenlobby vom Land. Die Landfrauenbewegung in Deutschland und ihre Funktionärinnen 1898 bis 1948, Frankfurt am Main 2009.
  • Landfrauenverband Württemberg-Baden (Hg.): Rückblicke – Einblicke – Ausblicke, 1947-1997. 50 Jahre Landfrauenverband Württemberg-Baden e.V. , Stuttgart 1996.

/// Gebildet in der Kneipe: Was es damit auf sich hat, lesen Sie am 23. April.

(K)ein Elendsgebiet – der Protest gegen die Schließung des Audi/NSU-Werks in Neckarsulm

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18. April 1975 |  Im Februar 1975 titelte die Tageszeitung „Heilbronner Stimme“ Schockierendes: Der Vorstand des VW-Konzerns, zu dem auch Audi/NSU gehörte, habe die Schließung des Standorts am Neckar beschlossen. Damit wollte man Überkapazitäten abbauen, die sich in Folge des Ölpreisschocks ergeben hatten und zeitgleich die Produktion rationalisieren, galten doch die Neckarsulmer als schwächstes Glied des Konzerns. Welche sozialen Folgen der Entschluss haben könnte, machte die Wochenzeitung „ZEIT“ klar, die von einem drohenden Elendsgebiet um Heilbronn schrieb, wenn die Fertigungstradition erlischte.

Am Morgen des 18. April 1975 demonstrierten zwischen 7.000 und 8.000 Automobilbeschäftigte mit einem Marsch nach/durch Heilbronn gegen die Entlassungspläne. Der Widerstand gegen die seit Jahresanfang gerüchteweise in der Luft liegenden Werksschließung hatte sich allmählich aufgebaut. Trotzig hatte der Betriebsratsvorsitzende Karl Walz gedonnert: „Solang mer no schnauft, is mer net tot.“ IG-Metall und Arbeiterschaft fühlten sich von der Konzernspitze hintergangen, sie sahen ihre Identifikation mit dem Werk und den gebauten Fahrzeugen nicht wertgeschätzt. Klaus Zwickel, Erster Bevollmächtigter der IG-Metall-Verwaltungsstelle Neckarsulm, zeigte sich besonders resolut und setzte auf harte Konfrontation bis hin zum „Wilden Streik“.

Des Volkes Stimme | Streik gegen die Schließung des NSU/Audi-Werkes in Neckarsulm

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Mit dem Ro 80, einem Wankelmotorenfahrzeug, war Audi in Sachen automobiler Innovation dermaßen vorangeprescht, dass Kundinnen und Kunden vor dem störungsanfälligen Spritfresser zurückschreckten. Nicht zuletzt dessen schlechte Absatzzahlen wirkten sich schnell existenzbedrohend auf das Neckarsulmer Audi/NSU-Werk aus, wo der Ro 80 gefertigt wurde. Seit den 1960er Jahren spielten vor Ort ausländische Arbeitskräfte eine besondere Rolle, wie der Historiker Arnd Kolb nachweisen konnte. Diese Gruppe stellt im Jahre 1973 rund 43 % der Beschäftigten bei Audi/NSU Neckarsulm. Sie waren es auch, die in den Krisenjahren 1974/75 hauptsächlich auf die Straße gesetzt wurden (6.500 Arbeiter wurden entlassen, zwei Drittel von ihnen waren Ausländer). Mit Prämien für die Rückkehr in ihre Herkunftsländer wollte man die nun wirtschaftlich lästig Gewordenen abspeisen und loswerden.

Die Bilanz des energischen Protests liest sich durchwachsen: Mehr als die Hälfte der Neckarsulmer Belegschaft wurde arbeitslos, doch das Werk war gerettet. Ein hoher Preis für den Automobilstandort um Heilbronn. In den kommenden Jahren sah sich die Konzernspitze zudem gezwungen, erneut ausländische Arbeitskräfte anzuwerben, um jene kraftzehrenden und niedrig bezahlten Arbeiten ausführen zu lassen, für die sich zu wenig Einheimische fanden.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Arnd Kolb: Autos – Arbeit – Ausländer. Die Geschichte der Arbeitsmigration des Audi Werks Neckarsulm, Bielefeld 2011.
  • Heinz Michaels: Falls das Autowerk geschlossen wird. Stadt auf dem Pulverfass, in: DIE ZEIT 24. Januar 1975 (Onlinearchiv).
  • Peter Brügge: „Solang mer no schnauft, is mer net tot“, in: DER SPIEGEL 10.03.1975 (Onlinearchiv).

/// Etwas beschaulicher und ländlicher wird es in unserem kommenden Eintrag am 20. April.

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