Musen für Mannheim – Fritz Wichert versammelt die Freunde der Kunst

Schreiben Sie einen Kommentar!

27. April 1911 | Sie wollen die Musen, die neun mythologischen Schutzgöttinnen der Kunst aufsuchen? Menschen der Antike hätten Ihnen empfohlen, am Berg Helikon in der Region Boiotien (Mittelgriechenland) nach den Töchtern Zeus zu suchen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bemühten sich führende Mannheimer Kreise um die Einbürgerung der Musen in die blühende Industrie- und Handelsstadt an Rhein und Neckar:  Anlässlich des 300. Stadtjubiläums im Jahre 1907 konnte die städtische Kunsthalle als exklusiver Musentempel eröffnet werden. Der Kunsthistoriker Fritz Wichert übernahm zwei Jahre später das Amt des Direktors. Unter seiner Regie wurden damals hochmoderne museums- und ausstellungspädagogische Konzepte praktisch umgesetzt und der zeitgenössischen Kunst eine tragende Rolle zugesprochen. So konnten Mannheimer Kunstfreunde beispielsweise das großformatigen Historiengemälde „Die Erschießung Kaiser Maximilians von Mexiko“ des impressionistischen Malers Édouard Manet bestaunen. Dass Wichert die Kunst des „Erzfeinds“ (Manet war Franzose) nach Mannheim geholt hatte, erzürnte sogleich deutsch-nationale Kreise in der Quadratestadt.

 

Fritz Wichert wollte zudem  die Sesshaftigkeit der Kunst in Mannheim weiter vertiefen. Zu diesem Zweck gründete er am 27. April 1911 den „Freien Bund zur Einbürgerung der bildenden Kunst in Mannheim“, der noch im ersten Jahr seines Bestehens auf die stattliche Zahl von 1.000 Mitgliedern verweisen konnte. In seiner grundlegenden Schrift über die Geschichte des Freien Bundes betont der Historiker Jenns Eric Howaldt, dass sich die Organisation selber „als Massenbewegung, die mit den Bildungsbestrebungen der Arbeiterbewegung im Einklang steht“ verstand. Seit 1861 existierte der Mannheimer Arbeiter-Bildungs-Verein als Teil der Emanzipationsbewegung der Arbeiterklasse. Mit einer „Akademie für Jedermann“, Vorträgen, einer Kunstberatungsstelle und günstigen Repliken bekannter Kunstwerke für die Wohnstube sollte der bildenden Kunst der elitärer Charakter genommen werden, zum Nutzen und zur Erbauung aller Volksschichten und -klassen dienstbar gemacht werden.

Kunst für Jedermann, auch für die jüngsten: Wichert mit seinem Sohn Jan auf dem Balkon seiner ersten Mannheimer Wohnung, 1909/10(Bildnachweis: Marchivum, Sig. AB01481-004; teilw. Ausbesserung: HdG BW/Hemberger).
Kunst für Jedermann, auch für die Jüngsten: Wichert mit seinem Sohn Jan auf dem Balkon seiner ersten Mannheimer Wohnung, 1909/10 (Bildnachweis: MARCHIVUM Mannheim, Sig. AB01481-004; teilw. Ausbesserung: HdG BW/Hemberger).

Stolz verkündete Wichert in seiner Rede zur Eröffnung der „Akademie für Jedermann“ am 21. Januar 1912, dass der „freie Bund“ eine regelrechte „Volksbewegung“ geworden sei, die in ganz Deutschland mit Bewunderung genannt werde. Tatsächlich zählte der Verein im Jahre 1914 rund 7.000 Mitglieder und die Kunsthalle etablierte sich als gefragter Ausstellungsraum für die (damals) moderne Kunst. Unter dem seit 1923 als Direktor tätigen Gustav F. Hartlaub wurde eine umfassende Sammlung von Werken des Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit zusammentragen. Die „Mannheimer Bewegung“ setzte Maßstäbe.

Seit Juni 2018 steht neben der Kunsthalle von 1907 ein nagelneuer Anbau. Wenn Sie es also nicht nach Griechenland schaffen sollten: Die Mannheimer Musen freuen sich ebenfalls über einen Besuch.

 


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Jenns Eric Howoldt:  Der Freie Bund zur Einbürgerung der bildenden Kunst in Mannheim. Kommunale Kunstpolitik einer Industriestadt am Beispiel der «Mannheimer Bewegung», Frankfurt a. Main/Bern 1982.
  • Christmut Präger: „Zur vollen Macht und Reife der Großstadt“, in: Ulrich Nieß/Michael Caroli (Hgg.): Geschichte der Stadt Mannheim, Bd. II: 1801 – 1914, Heidelberg/u.a. 2007, S. 628- 685, hier S. 638-644.
  • Leo BW: Kurzbiografie zu Fritz Wichert.
  • Kunsthalle Mannheim: Homepage.

/// Am 2. Mai kümmern wir uns um „Schweinkram“!

AIDS hat keine Chance – die AIDS-Hilfe Baden-Württemberg nimmt den Kampf auf

Ein Kommentar

25. April 1987 | Die Resonanz war verhalten, wie Martin Gauly, Mitglied der AIDS-Initiative Karlsruhe, bedauernd einräumte: „Die Bevölkerung ist vorläufig noch in Panikstimmung, Ängste herrschen vor, man traut sich nicht an das Problem heran.“ (Badische Neueste Nachrichten, 27.04.1987, S. 10). Zumeist Jugendliche seien zaghaft an den Stand der aufklärenden Aktiven am Europaplatz herangetreten und hätten das Gespräch an diesem ersten Landesaktionstag am 25. April 1987 gesucht.

 

Das schwache Echo kann wohl nicht am Engagement der AIDS-Hilfegruppen in Baden-Württemberg gelegen haben: Am 21. März 1987 hatten die bestehenden Stellen in Freiburg, Heidelberg, Karlsruhe, Konstanz, Mannheim, Pforzheim, Tübingen, Stuttgart und dem Unterland die Gründung eines Landesverbands beschlossen. Ziel war es, bestehende Erfahrungen, Kräfte und Ressourcen zu bündeln, um noch besser in der Öffentlichkeit als Ansprechpartner für Betroffene wie Nicht-Betroffene wahrgenommen zu werden. Dies war bitter nötig, denn auch fünf Jahre nach der Diagnose des ersten Falles der Immunschwäche-Krankheit in der Bundesrepublik waren Unwissenheit über die Übertragungswege, Stigmatisierung der Erkrankten („Schwulen-Seuche“) und fehlende Heilungsmethoden der Nährboden für sowohl medial geschürte Panik als auch für eine gefährliche Ist-mir-egal-Haltung.

 

In baden-württembergischen Großstädten entstanden Selbsthilfeorganisationen, die Homosexuelle, Prostituierte und Drogenabhängige gleichermaßen wie Heterosexuelle und SchülerInnen ansprechen wollten: Wie benutzt man Kondome richtig? Ist AIDS durch Küssen übertragbar? Während die Aktiven Antworten auf solch grundlegende Antworten zu geben versuchten, schwankte der Umgang politisch Verantwortlicher mit dem Thema zwischen Unterstützung der Hilfsgruppen bis hin zu Forderungen nach Isolation von Menschen mit dem HI-Virus, wie sie der bayrische Staatssekretär Peter Gauweiler im Jahre 1987 vertrat.

In Baden-Württemberg positionierte sich Barbara Schäfer (CDU), Ministerin für Arbeit, Gesundheit, Familie und Sozialordnung, klar gegen diesen Kurs. Sie wolle entschieden gegen jegliche soziale Diskriminierung von AIDS-Infizierten in der Gesellschaft vorgehen, stellte die Ministerin in einer von den GRÜNEN beantragten Aktuellen Debatte des Landtags am 11. März 1987 klar. Damals wurden im Land 70 AIDS-Patienten gezählt, 34 davon waren bereits verstorben. Die GRÜNEN drängten auf mehr Fördermittel für die Hilfsgruppen im Land, die SPD forderte, dass das Vertrauen von Betroffenen in den staatlichen Apparat gestärkt werden solle und die FDP/DVP sprach die schwierige Lage von AIDS-Kranken im Strafvollzug an.

Über die Jahrzehnte hat sich die AIDS-Hilfe Baden-Württemberg als starke Interessenvertretung erwiesen. Mit Aktionen wie der Verleihung des PositHIV-Preises an Personen, die sich um die Wahrung der Belange HIV-Infizierter verdient gemacht haben, gelingt es der Vereinigung, in Zeiten verbesserter medizinischer Versorgung der Erkrankten auf die bestehenden Gefahren der Krankheit hinzuweisen.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • AIDS-Hilfe Baden-Württemberg: Homepage.
  • Protokoll der Aktuellen Debatte zur Situation der an AIDS Erkrankten (…), 67. Sitzung, 11.03.1987, in: Landtag BW, Protokolle, 1986-1987, Bd. 6, S. 5441-5453: Onlineversion.
  • Deutsche AIDS-Hilfe: Umfassendes Onlinearchiv – Digitalisate seit der Gründung des Vereins.

/// Das Streben nach dem „Wahren, Schönen, Guten“ steht am 27. April in unserem Onlinekalender im Mittelpunkt.

Gebildet in der Kneipe – der Mannheimer Arbeiter-Bildungs-Verein

3 Kommentare

23. April 1861 | Eine Kneipe als Hort der Bildung? Statt Gesprächen auf Stammtischniveau geistige Konversationen? Warum nicht! Als am 23. April 1861 in der Gastwirtschaft „Halber Mond“ in den Mannheimer Quadraten der Arbeiter-Bildungs-Verein gegründet wurde, war dies ein deutliches Signal des Bildungs- und Emanzipationshungers des Proletariats an Rhein und Neckar.

In der Mitte des 19. Jahrhunderts brachen sich massive wirtschaftliche und soziale Veränderungen auf deutschem Boden die Bahn. Städte wie „Monnem“ (Mannheim) entwickelten sich von handwerklich geprägten Siedlungen zu Zentren des industriellen Fortschritts. Mit den Schornsteinen und Fabrikhallen wuchs die Zahl derer, die ihre Arbeitskraft in Zehn- oder Zwölfstundenschichten an die Unternehmerschaft verkauften und fortlaufend Mehrwert für diese erarbeiteten. In der Zeit des Vormärz (1830 bis 1848) wuchs unter Handwerkern und ArbeiterInnen, allen voran in den deutschen Ländern, in Belgien, der Schweiz, Frankreich und England das Bedürfnis, sich zusammenzuschließen, die Interessen ihrer Klasse zu vertreten und den eigenen Lebensstandard zu verbessern.

Eichelsdörfer wusste: Der Bildungshunger der Massen muss gestillt werden (Bildnachweis: Generallandesarchiv Karlsruhe; Bearb.: HdG BW/Hemberger).
Eichelsdörfer wusste: Der Bildungshunger der Massen muss gestillt werden (Bildnachweis: Generallandesarchiv Karlsruhe; Einfärbung.: HdG BW/Hemberger).

Radikale sozialistische Vordenker wie Wilhelm Weitling, Karl Marx und Friedrich Engels setzten sich in solchen Vereinigungen wie dem „Bund der Gerechten“ (ab 1847 „Bund der Kommunisten“) dafür ein, nicht nur ein Stück vom guten Leben, sondern den ganzen Kuchen zu erobern. Dies bedeutete auch, durch Selbstbildung das theoretische Handwerkszeug für die politische Revolution zu erlangen. In Mannheim hatten sich zwischen 1844 und 1847 Handwerker und Gesellen zu einem Verein zusammengeschlossen; deutschlandweit bündelte der Dachverband „Allgemeine deutsche Arbeiterverbrüderung“ die verschiedenen Bildungsvereine der aufstrebenden Klasse. Nach der misslungenen Revolution von 1848/49 wälzte sich eine Verbotswelle durch die Länder, der auch der 1848 wieder aufgeblühte Mannheimer Verein zum Opfer fiel. Der Hunger nach Bildung und politischer Mitbestimmung war allerdings so groß, dass die Arbeiterbewegung rasch die Durststrecke überwinden konnte.

Der gelernte Schuhmacher Johann Peter Eichelsdörfer war in Mannheim eine treibende Kraft bei der Gründung des Arbeiter-Bildungs-Vereins im Jahre 1861, dem ersten dieser Art in Baden. Während sich in Leipzig im Jahre 1863 mit dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) unter der Führung Ferdinand Lassalles eine politische Partei bildete, fand sich in Frankfurt am Main am 7. Juni desselben Jahres der „Verband deutscher Arbeitervereine“ zusammen. An der Zusammenkunft zahlreicher Arbeiter-Bildungsvereine, auch liberaler Prägung, nahm Eichelsdörfer teil.  Er forderte in seiner Rede den Unterricht in „Elementargegenständen“ wie Lesen, Buchhaltung, Warenkunde, aber auch sittlichen Unterricht. Konsequent wurde in der Abschlussresolution die „geistig[e], politisch[e], bürgerlich[e] und wirtschaftlich[e] Hebung des Arbeiterstandes“ als Ziel ausgegeben.

„Wissen ist Macht“, betonte der Sozialist Wilhelm Liebknecht, der selber in den 1840ern Volksschullehrer im Schweizer Exil gewesen war. In Mannheim eroberten sie diese Macht seit 1861 Seite um Seite, Vortrag für Vortrag – nicht nur im „Halben Mond“.


Zum Weiterlesen und -forschen:

/// Um Aufklärung anderer Art war ein Verband mehr als 120 Jahre später bemüht. Lesen Sie am 25. April mehr zu diesem Thema.

Im Zeichen der Biene – in Alfdorf entsteht der erste Landfrauenverein nach 1945

Schreiben Sie einen Kommentar!

20. April 1946 | Die Biene steht für Fleiß und Gemeinschaftssinn, für harte Arbeit und das Leben in der Natur. Nicht zuletzt deshalb ist die geflügelte Sympathieträgerin seit über einhundert Jahren selbstgewähltes Symbol der Landfrauen. Elisabet Boehm legte im Jahre 1898 in Ostpreußen mit ihrem „Landwirtschaftlichen Hausfrauenverein“ den Grundstein einer Bewegung, die vielen Frauen neue Möglichkeiten eröffnete. Boehm setzte nicht nur auf Weiterbildung, sondern förderte auch die Vermarktung landwirtschaftlicher Produkte in eigenen Verkaufsstellen – was Frauen erstmals erlaubte, selbst ein Einkommen zu erzielen. Nach der Machtübernahme der NSDAP befürwortete Boehm jedoch auch die Aufnahme der Landfrauen in den die NS-Ideologie vertretenden Reichsnährstand.  Ein Teil der bisherigen Mitglieder zog sich bewusst in die innere Emigration zurück oder trat aus.

Des Volkes Stimme | Im Zeichen der Biene – In Alfdorf entsteht der erste Landfrauenverein nach 1945

Für die Wiedergabe des YouTube-Videos auf den Play-Button klicken. Dadurch erklären Sie sich damit einverstanden, dass personenbezogene Daten an den Betreiber des Portals zur Nutzungsanalyse übermittelt werden. Mehr Informationen und die Datenschutzerklärung von Google finden Sie unter https://policies.google.com/privacy?hl=de.

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs musste daher eine neue Landfrauenbewegung unter einem neuen Namen entstehen. Die amerikanische Besatzungsmacht unterstützte diesen Prozess aktiv im Rahmen der „Re-education“. Im kleinen Alfdorf bei Schwäbisch Gmünd gründete Margarethe Freifrau vom Holtz gemeinsam mit Marie-Luise Gräfin Leutrum von Ertingen und anderen Aktivistinnen am 20. April 1946 den ersten „Landfrauenverein“ im damaligen Württemberg-Baden. Jede Frau im Dorf ansprechen, von der Bäuerin bis zur Pfarrersfrau, explizit auch die Frauen der Arbeiter – diesen Grundsatz schrieb Marie-Luise Gräfin Leutrum von Ertingen den Alfdorferinnen bei einem Besuch im November 1946 buchstäblich ins Stamm- beziehungsweise Gästebuch. Leutrum reiste in dieser Zeit unentwegt durch das Ländle und animierte Frauen zur Gründung von Ortsvereinen; im Folgejahr gelang es ihr, den Landfrauenverband Württemberg-Baden ins Leben zu rufen, dessen Vorsitzende sie wurde. Der LandFrauenverband Württemberg-Baden ist der erste Landesverband der Landfrauen in den westlichen Besatzungszonen. Kurz darauf initiierte Gräfin Leutrum die Gründung des Deutschen Landfrauenverbandes, der ein Jahr später in Bonn – Bad Godesberg gegründet wurde. Gräfin Leutrum wurde zur ersten Präsidentin des Deutschen LandFrauenverbandes gewählt.

Seit der Neugründung in der Nachkriegszeit hat sich das Profil des Landfrauenverbands abermals gewandelt. Statt für Frauen einzutreten, die hauptsächlich in landwirtschaftlich geprägten Umfeldern („Haus und Hof“) tätig sind, stehen nun Frauen auf dem Land im Mittelpunkt der Aktivität. In den 1980ern regte der Landesverband grundlegende Diskussionen zu den Themen Heimat und Zukunft des ländlichen Raumes an. Mit eigenständigen Seminaren soll Frauen der Weg in die Kommunalpolitik geebnet und mit Nachdruck der Wert weiblicher Tätigkeit in Beruf und Familie öffentlich betont werden. Dabei machen die Aktivistinnen nicht vor Ländergrenzen halt: Anfang der 1990er Jahre bildeten sich Kontakte zu Frauenvereinigungen im Baltikum sowie in verschiedenen afrikanischen Staaten aus. Seit 2005 unterstützt der Landesverband Selbsthilfeprojekte in Kenia, mit denen unter anderem das Auskommen verwitweter Frauen und verwaister Mädchen gesichert werden sollen.

LandFrauen von heute ziehen erfolgreich Honig aus ihrer Herkunft und bieten einen Blumenstrauß voller Ideen und Projekte.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • LandFrauenverband Baden-Württemberg: Homepage.
  • Anke Sawahn: Die Frauenlobby vom Land. Die Landfrauenbewegung in Deutschland und ihre Funktionärinnen 1898 bis 1948, Frankfurt am Main 2009.
  • Landfrauenverband Württemberg-Baden (Hg.): Rückblicke – Einblicke – Ausblicke, 1947-1997. 50 Jahre Landfrauenverband Württemberg-Baden e.V. , Stuttgart 1996.

/// Gebildet in der Kneipe: Was es damit auf sich hat, lesen Sie am 23. April.

„Wenn der Hahn kräht …“ – der Reutlinger Schulstreik gegen den NC-Erlass

Ein Kommentar

15. April 1970 | „Wenn der Hahn kräht, wachen die Schüler auf!“ Mit diesem Slogan überschrieb die Bezirks-Schülermitverantwortung (SMV) Tübingen-Reutlingen ein Flugblatt, das in den heißen Reutlinger Tagen des Protests von Hand zu Hand ging. Den Begriff „Klassenkampf“ hatten die Schülerinnen und Schüler der Reutlinger Gymnasien wörtlich genommen. Und sie waren nicht die einzigen:  In 40 Städten Baden-Württembergs forderte die junge Generation die Abschaffung des 1968 eingeführten Numerus Clausus, der Zugangsbeschränkung auf besonders gefragte Fächer. Damit nicht genug: Auch für eine prinzipiell bessere Bildungspolitik und mehr Mitspracherecht an den Schulen wurde gestreikt.

Aus Unterlagen des Isolde-Kurz-Gymnasiums (Reutlingen) geht hervor, dass die Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen 6 bis 9 zu 90 % für den Streik gestimmt hatten; 391 von 517 SchülerInnen der Jahrgangsstufen 4 bis 9 beteiligten sich schließlich an der Arbeitsniederlegung. So berichtete die „Südwestumschau“ am Donnerstag, den 16. April 1970: „In Reutlingen beteiligten sich fast 3.000 streikende Schüler an einem Demonstrationszug, bei dem auf Spruchbändern die Bevölkerung aufgefordert wurde, sich mit dem dreitägigen Streik (…) zu solidarisieren.“

 

Manche Eltern und Lehrer gingen diesem Aufruf nach und schlossen sich den Streikenden an. Auch am Friedrich-List-Gymnasium in Reutlingen wurden Hefte und Tafeln nicht genutzt. Die Klassentagebüchern blieben die Tage leer, nur ein Wort ist darin zu lesen: „Streik“.

Hauptangriffsziel der Schüler war der damalige Kultusminister Wilhelm Hahn. In einer Erklärung versprach der CDU-Politiker verschmitzt: „Geben Sie mir Geld und ich baue den Numerus Clausus sofort ab.“  Zwar sagte Hahn zu, das Anliegen der Streikenden an die Landesregierung weiterzugeben, doch lehnte er den Streik als Mittel der Mitbestimmung ab. Disziplinarische Maßnahmen für die Streikenden gab es hingegen keine, befürchteten doch die Verantwortlichen, dass dies dem Streik nur zusätzlichen Aufwind geben würde. Zudem stünde dies in keinem Verhältnis zum insgesamt friedlichen Verlauf.

 

Insgesamt beförderte der Streik die Kultur der Mitbestimmung und des kritischen Engagements der SchülerInnen, auch wenn das eigentliche Ziel verfehlt wurde, nämlich die Abschaffung des NC-Erlasses. Was einst als Notmaßnahme eingeführt worden war, behielt seine Gültigkeit bis zum heutigen Tage.

(In Zusammenarbeit mit Frau Clara Ebert, für deren umfassende Recherche und Co-Autorenschaft an dieser Stelle herzlich gedankt sei).


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Frieder Kernen: Streik der jungen Schwaben. Uber 10000 Schüler gingen auf die Straße, in: DIE ZEIT 24. April 1970 [online].
  • o.A.: Nicht mehr drin, in: DER SPIEGEL 20/1970 [online].
  • Stefan Paulus: „Konservativ und fortschriftllich zugleich“. Baden-Württembergische Bildungspolitik in den 1960er- und 1970er-Jahren, in: Philipp Gassert/Reinhold Weber (Hgg.): Filbinger, Wyhl und die RAF. Die Siebzigerjahre in Baden-Württemberg (= Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs, Bd. 42), Stuttgart 2015, S. 157-178.

/// Auch am 18. April wird auf dieser Seite wieder gestreikt. Zu Lesen wird es dennoch etwas geben.

Neue Formen für die Hangweide – ein Beteiligungsprozess in Kernen

Ein Kommentar

21. März 2018 | Irgendwie muss heute (fast) alles partizipativ sein. Ob Bauvorhaben, Ausstellungen oder Kindergarten – ohne Partizipation ist vieles kaum noch denkbar. Aber wie wird das überhaupt gemacht?

Ein Blick auf ein knapp acht Hektar großes Gelände im Remstal mit dem schönen Namen „Hangweide“ könnte weiterhelfen. Die Diakonie Stetten betreute dort in mehreren Gebäuden Wohnungen für Menschen mit Behinderungen. Nun sucht sie neue inklusive Wohnformen. Dafür hat sie bereits einige Häuser aufgegeben, die sie an die Gemeinde Kernen verkaufen will. Das Ziel ist klar: Kernen benötigt dringend bezahlbaren Wohnraum. Aber wie kann heute ein neues Wohnquartier entstehen?

Des Volkes Stimme | Neue Formen für die Hangweide - ein Beteiligungsprozess in Stetten

Für die Wiedergabe des YouTube-Videos auf den Play-Button klicken. Dadurch erklären Sie sich damit einverstanden, dass personenbezogene Daten an den Betreiber des Portals zur Nutzungsanalyse übermittelt werden. Mehr Informationen und die Datenschutzerklärung von Google finden Sie unter https://policies.google.com/privacy?hl=de.

Die Bürgerinnen und Bürger von Kernen waren entschlossen, dabei nicht einfach nur zuzusehen – und der Gemeinderat wollte dies auch ernst nehmen. Er beschloss Anfang 2018 einen umfassenden Bürgerbeteiligungsprozess und beauftragte Dr. Konrad Hummel und dessen Tochter Lena, diesen zu begleiten und zu moderieren. In mehreren Schritten vollzog sich seither die Beteiligung. Auf eine Auftaktveranstaltung folgte am 21. März 2018 der erste Workshop. An diesem konnten zum einen Interessierte teilnehmen, zum anderen wurden nach dem Zufallsprinzip Bürgerinnen und Bürger angeschrieben. Insgesamt meldeten sich 55 Personen an, 35 bis 40 von ihnen kamen regelmäßig zu den verschiedenen Workshops. In mehreren Gesprächsrunden erarbeiteten die Mitwirkenden ihre Vorstellungen für die neue Hangweide. Die unterschiedlichsten Wünsche und Vorstellungen prallten dabei aufeinander. Den Moderatoren fiel dabei die Schlüsselstellung zu. Sie mussten einen Weg finden, bei dem sich niemand übergangen oder ausgeschaltet fühlt. In Kernen gelang dies: Am 19. Juni übergaben die Moderatoren die Bürgerempfehlungen an die Verwaltung und den Gemeinderat.

Aber was davon letztlich Realität wird, entscheidet immer noch der Gemeinderat.


Zum Weiterlesen und -forschen:

/// Psst, streng geheim! Doch Sie dürfen es exklusiv lesen: Unser nächster Eintrag erscheint am 26. März.

Lauter Störfälle – die Schönauer Stromrebellen übernehmen das Stromnetz

Ein Kommentar

10. März 1996 | Spannung ist messbar, das bestätigt jeder und jede ElektrotechnikerIn. Die emotionale Spannung, die an diesem besonderen Wahlabend in der kleinen südbadischen Kommune Schönau herrschte, war unermesslich: Wer würde im jahrelangen Ringen um das Stromnetz den Sieg davontragen: Die Stromrebellen oder der etablierte Versorger, die „Kraftübertragungswerke Rheinfelden“ (KWR)? Der Aufbruch in die Zukunft der Energieversorgung in Schönau begann mit einer Katastrophe, die sich über 1.600 Kilometer weiter östlich abgespielt hatte, mit dem Reaktorunfall von Tschernobyl. Das Ehepaar Ursula und Michael Sladek ergriff zusammen mit anderen alarmierten Schönauern die Initiative und nahmen den Kampf gegen Nutzung der Kernkraft im eigenen Land auf.

Des Volkes Stimme | Lauter Störfälle – die Schönauer Stromrebellen übernehmen das Energienetz

Für die Wiedergabe des YouTube-Videos auf den Play-Button klicken. Dadurch erklären Sie sich damit einverstanden, dass personenbezogene Daten an den Betreiber des Portals zur Nutzungsanalyse übermittelt werden. Mehr Informationen und die Datenschutzerklärung von Google finden Sie unter https://policies.google.com/privacy?hl=de.

Durch energisches Stromsparen sollte den großen Stromkonzernen das Geld abgegraben werden. Jedoch wuchs rasch die Erkenntnis, dass die Lösung nur eine vollständige Loslösung von der Abhängigkeit externer Stromversorger sein konnte: Ende 1990 gründet sich die Netzkauf Schönau GbR. Anfang 1991 verlängerte der Gemeinderat den bestehenden Konzessionsvertrag mit der KWR, die auf Atomkraft setzte und als kapitalkräftiger Stromanbieter für viele Menschen vor Ort die sicherere Wahl darstellte. Die Stromrebellen von der Netzkauf organisierten daraufhin einen Bürgerentscheid, der im Oktober 1991 richtungsweisend ausging: 55,7 % stimmten für die Aufnahme von Verhandlungen zum Kauf des lokalen Stromnetz.

Je enger, desto größer der Widerstand, ist eine weitere Regel in der Elektrolehre. Enger wurde es für die KWR nach der Gründung der Elektrizitätswerke Schönau (EWS) im Jahre 1994. Nachdem der Gemeinderat im November 1995 entschieden hatte, der EWS den Konzessionszuschlag zu geben, strebte diesmal die unterlegene CDU-Fraktion einen Bürgerentscheid an, um das „drohende Abenteuer“ abzuwenden. Während die KWR und die Bürgerinitiative „Pro Bürgerentscheid“ mit Zahnbürsten, Flugblättern und moderner Technik eine sichere Stromversorgung und stabile Preise versprachen, warben die Stromrebellen mit Marmelade, nachhaltigen Argumenten und viel persönlichen Einsatz für ein „Nein“ zur Verlängerung des KWR-Vertrags. Am Wahlabend zeigte sich erneut, wie zerrissen die Kommune bezüglich der Stromfrage war: Mit lediglich rund 54 % der abgegebenen Stimmen erteilten die Schönauer dem alten Stromversorger KWR eine Absage. Die siegreichen Stromrebellen traten nun die mühevolle Aufgabe an, das Stromnetz aufzukaufen und die Elektrizitätsversorgung in eigene Hände zu nehmen.

Das Schönauer Beispiel hat Schule gemacht: Einige Kommunen in Deutschland betreiben bereits die lokale Stromversorgung in Eigenregie, in BürgerInnenhand.


Zum Weiterlesen und -schauen:

  • Bernward Janzing: Störfall mit Charme. Die Schönauer Stromrebellen im Widerstand gegen die Atomkraft, Vöhrenbach 2008.
  • DVD: Die Schönauer Gefühl. Die Geschichte der Stromrebellen aus dem Schwarzwald. Eine Produktion des Fördervereins für umweltfreundliche Stromverteilung und Energieerzeugung Schönau im Schwarzwald e.V., Schönau 2007.

/// Am 12. März geht es spannend weiter: Frauenpower an der Uni in unserem Onlinekalender.

Der Zukunft eine Stimme – der Jugendgemeinderat in Weingarten

2 Kommentare

7.  März 1985 | Wer im oberschwäbischen Weingarten lebt, muss sich um die Zukunft der Demokratie weniger Sorgen machen. Dort wird die jeweils nächste Generation bereits seit über 30 Jahren aktiv an der Kommunalpolitik beteiligt. Erstmals in einer deutschen Gemeinde überhaupt wählten am 27. Februar 1985 rund 800 Schülerinnen und Schüler zwischen der 7. und 10. Klasse ihre Vertretung. Alles war wie bei den Erwachsenen: Verteilt auf vier thematische Wahllisten kandidierten 90 Jugendliche, die Stadtverwaltung stellte Wahlurnen und -kabinen auf und an jeder Schule wachte ein Wahlvorstand über den Ablauf. Nur die Wahlbeteiligung sah völlig anders aus: 92,8 % der wahlberechtigten Jugendlichen machten mit – die Erwachsenen konnten sich im Vergleich dazu nur schämen.

Des Volkes Stimme | Der Zukunft eine Stimme – der Jugendgemeinderat in Weingarten

Für die Wiedergabe des YouTube-Videos auf den Play-Button klicken. Dadurch erklären Sie sich damit einverstanden, dass personenbezogene Daten an den Betreiber des Portals zur Nutzungsanalyse übermittelt werden. Mehr Informationen und die Datenschutzerklärung von Google finden Sie unter https://policies.google.com/privacy?hl=de.

Auch die erste Sitzung des Jugendgemeinderats am 7. März war keine Show. Ab 9 Uhr tagte der 26-köpfige Rat im Großen Sitzungssaal unter der Leitung des Oberbürgermeisters Rolf Gerich und in Anwesenheit der Vorsitzenden der Gemeinderatsfraktionen sowie der städtischen Amtsleiter. Viele der behandelten Themen kamen den Gemeinderäten bekannt vor: Hallenbad, Müll, Radwege, Nahverkehr und Tempo 30 – nur alles aus der Sicht der Jugendlichen. Ein besonderes Jugendthema stand dann aber doch noch im Mittelpunkt: der schlechte Zustand des Jugendhauses. Nach den Sommerferien sollte in der nächsten Sitzung über Fortschritte berichtet werden.

Für Oberbürgermeister Rolf Gerich war die Sitzung ein großer Erfolg. Er wollte die Jugendlichen mit seiner Idee ausdrücklich in die Verantwortung für ihre Stadt nehmen und gleichzeitig der eigenen Verwaltung neue Impulse geben. Neun Jahre zuvor hatte er Jugendlichen bereits das Fragerecht bei Gemeinderatssitzungen gegeben. Das von den Vereinten Nationen für 1985 ausgerufene „Internationale Jahr der Jugend“ brachte ihn darauf, noch einen Schritt weiter zu gehen und den Rat ins Leben zu rufen.

Weingarten wurde so zum Vorbild. Inzwischen bestehen rund 100 Jugendgemeinderäte in Baden-Württemberg, deutlich mehr als in den anderen Bundesländern.


Zum Weiterlesen und -forschen:

/// Alle Räder stehen still, wenn ein Frauenarm es will. Zum morgigen Weltfrauentag wird es kämpferisch in unserem Onlinekalender.

Eine große Zeitung aus Freiburg – der „Freisinnige“ und die Pressefreiheit

Ein Kommentar

1. März 1832 | Wie lautete noch einmal die Erkenntnis unseres Beitrags vom 12. Februar? Ein gutes Gesetz allein genügt nicht! Das war exakt auch die Überzeugung der badischen Liberalen im Jahr 1831. Der Landtag in Karlsruhe hatte am 24. Dezember 1831 ein sensationell freizügiges Pressegesetz verabschiedet: Obwohl im Deutschen Bund die Vorzensur für alle Zeitungen und dünnere Bücher zwingend vorgeschrieben war, wagte es das Großherzogtum, einen anderen Weg einzuschlagen. Durch viel Geschick hatten die liberalen Anführer Carl von Rotteck und Carl Welcker ein Gesetz durchgesetzt, das anscheinend dem Vorgaben des Bundes entsprach, de facto aber das System der Vorzensur ins Leere laufen ließ: Kein Redakteur musste mehr seine Artikel einem Beamten zur Genehmigung vorlegen, stattdessen mussten sich die Schreiber künftig nur noch vor Gerichten für den Inhalt ihrer Blätter verantworten.

Ganz schön freisinnig: Carl von Rotteck (Bearb. HdGBW/Hemberger)
Ganz schön freisinnig: Carl von Rotteck (Bearb. HdGBW/Hemberger)

Noch während um das Gesetz gerungen wurde, entstand in Freiburg der Plan, die Probe auf das Exempel zu machen. Der Chemieprofessor Carl Fromherz schrieb seinem Professorenkollegen Rotteck am 11. November, in Freiburg solle unter dem Titel „Der Freisinnige“ eine neue Tageszeitung gegründet werden. Wenn Rotteck,  Welcker und einige andere Landtagshelden mitmachen würden, sei der Erfolg garantiert. Schließlich müsse das Gesetz zum Leben erweckt werden. Bei Rotteck fand Fromherz offene Ohren. Schon im Landtag war vor den „verdorbenen Studenten“ gewarnt worden, die das Gesetz missbrauchen könnten. Die Abgeordneten selbst würden die neue Freiheit gewissenhaft nutzen. Zumal sie dringend eine Zeitung benötigten. Ohne eigenes Sprachrohr blieben die Liberalen trotz ihrer momentanen Mehrheit im Landtag letztlich isoliert. Öffentlichkeit herstellen war das Gebot der Stunde.

"Preßfreiheit", ein hohes Gut. Bereits 1832 kosteten die Badener die Früchte dieses Grundrechts.
„Preßfreiheit“, ein hohes Gut. Bereits 1832 kosteten die Badener die Früchte dieses Grundrechts. Hier zu sehen: Das Titelblatt der Erstausgabe des „Freisinnigen“ (Bildnachweis: HdGBW).

Die Freiburger Bürgerschaft entwickelte das Modell für die neue Kommunikation: 28 Bürger – unter ihnen „eine Reihe der achtbarsten Männer der Stadt“ – zeichneten als Aktionäre mit jeweils 100 Gulden das Startkapital der Zeitung. Dies reichte aus, um am 1. März, dem Beginn der Pressefreiheit, die erste Ausgabe der Zeitung herauszugeben. Das Format der Zeitung war riesig und auch sonst waren die Professoren, die die Pariser Blätter als Vorbild nahmen, nicht bescheiden: „Der Freisinnige widmet seine Kräfte der großen Sache der Konstitution in ganz Deutschland.“ Mit Ausdauer umwarben Rotteck und Welcker die große „Edelfeder“ Ludwig Börne in Paris, allein dessen Honorarvorstellungen überstiegen das Freiburger Budget bei weitem.

Der Erfolg war zunächst beachtlich. Über 2.000 Abonnements sicherten das Überleben. Doch der Deutsche Bund war mehr als verärgert über die badische Eigenmächtigkeit und die ständigen Belehrungen aus Freiburg. Eine Untersuchung gegen den „Freisinnigen“ und die ebenfalls neue Mannheimer Zeitung „Der Wächter am Rhein“ kam zu einem wenig überraschenden Ergebnis:  Der „Freisinnige“ sei „gleich verderblich, aufrührerisch und beleidigend“ wie der „Wächter“, beide Zeitungen wurden verboten. Am 25. Juli 1832 erschien in Freiburg die letzte Ausgabe eines großen Projektes. Auch das Pressegesetz musste aufgehoben werden, am 30. Juli kehrte die Zensur zurück.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Universitätsbibliothek Freiburg: Digitalisat „Der Freisinnige“
  • Rainer Schimpf: Der „Freisinnige“ und der Kampf der badischen Liberalen für die Pressefreiheit 1831/32, in: Helmut Reinalter (Hrsg.): Die Anfänge des Liberalismus und der Demokratie in Deutschland und Österreich 1830–1848/49, Frankfurt a. M. 2002, S. 157–190 [Digitalisat].

/// Und morgen fährt der Sturm in die Zeit, natürlich in Tübingen, wo sonst?

Geschichte wird aufgearbeitet – der „Russenfriedhof“ in Biberach

Schreiben Sie einen Kommentar!

23. Februar 1985 | Die Stille eines besonderen Friedhofs schrie Anfang der 1980er Jahre förmlich nach einer Wende zum Besseren. Seit seiner Einrichtung im Jahre 1950 lag die im Volksmund als „Russenfriedhof“ benannte Kriegsgräberstätte weitgehend unbeachtet und ungepflegt dar. 614 Sowjetbürgerinnen und -bürger hatten hier ihre letzte Ruhestätte gefunden: Als Kriegsgefangene und verschleppte Zivilisten waren sie in Folge von Zwangsarbeit und unmenschlicher Behandlung zu Tode gekommen.

Ein neuer Geist zeigte sich mit der Friedensbewegung, die in den 1980er Jahren auch im oberschwäbischen Biberach aktiv war. Berthold Seeger, damaliger Geschäftsführer der katholischen Friedensinitiative Pax Christi in der Diözese Rottenburg-Stuttgart, sah mit seiner Biberacher Ortsgruppe die Versöhnungsarbeit mit der Sowjetunion, Polen und anderen osteuropäischen Staaten als zentrale Herausforderung an. Schnell rückte die Kriegsgräberstätte als lokaler Bezugsort ins Gedächtnis der Aktiven.

 

Den erinnerungsgeschichtlichen Stein brachte zudem die Geschichts-AG der Dollinger Realschule ins Rollen. „Unbewältigte Zeitgeschichte“ lautete das Thema des Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten im Schuljahr 1982/83. Die SchülerInnen Stefan Blum, Thomas Haag und Heidi Perchner nahmen gemeinsam mit dem Lehrer Reinhold Adler die sowjetische Kriegsgräberstätte unter die Lupe. Die jungen HistorikerInnen in spe setzten sich weiterhin dafür ein, die kyrillische Inschrift auf dem Gedenkstein um eine deutsche Übersetzung zu ergänzen.

Zugleich wirkten die Initiative „Ohne Rüstung leben“ und Pax Christi darauf hin, dass Biberach eine Städtepartnerschaft mit Teladi (heute in Georgien) einging. Die anlaufende Perestroika-Politik in der Sowjetunion machte fortan vieles möglich, was vorher undenkbar erschien. Während 1967 das geplante Aufstellen eines russisch-orthodoxen Kreuzes auf der Kriegsgräberstätte noch seitens deutscher Behörden als zu provokativ für die sowjetische Seite abgelehnt worden war, startete Pax Christi 1985 einen neuen, nunmehr erfolgreichen Anlauf. Passenderweise, so Berthold Seeger, konnte man den Besuch des Patriarchen der Georgischen Orthodoxen Kirche in Biberach in das Gebetsgedenken anlässlich der Aufstellung des Kreuzes einbetten.

Es folgten Besuche der Pax Christi-Aktiven in Moskau 1987 sowie „Russische Wochen“ in Biberach, um der Geschichte der 614 (noch) namenlos begrabenen Sowjetmenschen zu gedenken. Sogar in der sowjetischen Tageszeitung Isvestija erschien 1989 ein Artikel über die Biberacher Aktivitäten. 570 Toten erhielten 1991 ihre Namen zurück: Die aufgestellten Plaketten waren durch Spenden der Biberacher Bürgerschaft finanziert worden.

Besonders danken möchten wir Herrn Berthold Seeger für die schriftlichen Auskünfte, dem Stadtarchiv Biberach für Archivgut sowie dem Biberacher Friedensbündnis für die Vermittlung von Kontakten.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Reinhold Adler/Joachim Guderlei: Ein Friedhof der Namenlosen in Biberach. Zur Entstehung des Friedhofs für sowjetische Soldaten und Zwangsarbeiterinnen, in: Zeit und Heimat. Beiträge zur Geschichte, Kunst und Kultur von Stadt und Kreis Biberach 32. Jg. (1989), H. 2, S. 49-57.
  • Ulrike Puvogel/u.a.: Gedenkstätten für die Opfer des NS. Eine Dokumentation, Bd. I, Bonn 1995, S. 24.
  • Hans-Otto Binders: „Biberach von 1945 bis zur Mitte der sechziger Jahre“, in: Dieter Stievermann/u.a. (Hgg.): Geschichte der Stadt Biberach, Stgt. 1991, S. 603-646, hier S. 632f..
  • Bestände des Stadtarchiv Biberach (u.a.): L 20 Adler, Reinhold;  G 43 Bauverwaltungsamt.

/// Seit Jahrzehnten heiß umkämpft und diskutiert. Was, das erfahren Sie am 23. Februar in unserem Onlinekalender.

Datenschutz © 2018 | Haus der Geschichte Baden-Württemberg