AIDS hat keine Chance – die AIDS-Hilfe Baden-Württemberg nimmt den Kampf auf

Ein Kommentar

25. April 1987 | Die Resonanz war verhalten, wie Martin Gauly, Mitglied der AIDS-Initiative Karlsruhe, bedauernd einräumte: „Die Bevölkerung ist vorläufig noch in Panikstimmung, Ängste herrschen vor, man traut sich nicht an das Problem heran.“ (Badische Neueste Nachrichten, 27.04.1987, S. 10). Zumeist Jugendliche seien zaghaft an den Stand der aufklärenden Aktiven am Europaplatz herangetreten und hätten das Gespräch an diesem ersten Landesaktionstag am 25. April 1987 gesucht.

 

Das schwache Echo kann wohl nicht am Engagement der AIDS-Hilfegruppen in Baden-Württemberg gelegen haben: Am 21. März 1987 hatten die bestehenden Stellen in Freiburg, Heidelberg, Karlsruhe, Konstanz, Mannheim, Pforzheim, Tübingen, Stuttgart und dem Unterland die Gründung eines Landesverbands beschlossen. Ziel war es, bestehende Erfahrungen, Kräfte und Ressourcen zu bündeln, um noch besser in der Öffentlichkeit als Ansprechpartner für Betroffene wie Nicht-Betroffene wahrgenommen zu werden. Dies war bitter nötig, denn auch fünf Jahre nach der Diagnose des ersten Falles der Immunschwäche-Krankheit in der Bundesrepublik waren Unwissenheit über die Übertragungswege, Stigmatisierung der Erkrankten („Schwulen-Seuche“) und fehlende Heilungsmethoden der Nährboden für sowohl medial geschürte Panik als auch für eine gefährliche Ist-mir-egal-Haltung.

 

In baden-württembergischen Großstädten entstanden Selbsthilfeorganisationen, die Homosexuelle, Prostituierte und Drogenabhängige gleichermaßen wie Heterosexuelle und SchülerInnen ansprechen wollten: Wie benutzt man Kondome richtig? Ist AIDS durch Küssen übertragbar? Während die Aktiven Antworten auf solch grundlegende Antworten zu geben versuchten, schwankte der Umgang politisch Verantwortlicher mit dem Thema zwischen Unterstützung der Hilfsgruppen bis hin zu Forderungen nach Isolation von Menschen mit dem HI-Virus, wie sie der bayrische Staatssekretär Peter Gauweiler im Jahre 1987 vertrat.

In Baden-Württemberg positionierte sich Barbara Schäfer (CDU), Ministerin für Arbeit, Gesundheit, Familie und Sozialordnung, klar gegen diesen Kurs. Sie wolle entschieden gegen jegliche soziale Diskriminierung von AIDS-Infizierten in der Gesellschaft vorgehen, stellte die Ministerin in einer von den GRÜNEN beantragten Aktuellen Debatte des Landtags am 11. März 1987 klar. Damals wurden im Land 70 AIDS-Patienten gezählt, 34 davon waren bereits verstorben. Die GRÜNEN drängten auf mehr Fördermittel für die Hilfsgruppen im Land, die SPD forderte, dass das Vertrauen von Betroffenen in den staatlichen Apparat gestärkt werden solle und die FDP/DVP sprach die schwierige Lage von AIDS-Kranken im Strafvollzug an.

Über die Jahrzehnte hat sich die AIDS-Hilfe Baden-Württemberg als starke Interessenvertretung erwiesen. Mit Aktionen wie der Verleihung des PositHIV-Preises an Personen, die sich um die Wahrung der Belange HIV-Infizierter verdient gemacht haben, gelingt es der Vereinigung, in Zeiten verbesserter medizinischer Versorgung der Erkrankten auf die bestehenden Gefahren der Krankheit hinzuweisen.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • AIDS-Hilfe Baden-Württemberg: Homepage.
  • Protokoll der Aktuellen Debatte zur Situation der an AIDS Erkrankten (…), 67. Sitzung, 11.03.1987, in: Landtag BW, Protokolle, 1986-1987, Bd. 6, S. 5441-5453: Onlineversion.
  • Deutsche AIDS-Hilfe: Umfassendes Onlinearchiv – Digitalisate seit der Gründung des Vereins.

/// Das Streben nach dem „Wahren, Schönen, Guten“ steht am 27. April in unserem Onlinekalender im Mittelpunkt.

Im Zeichen der Biene – in Alfdorf entsteht der erste Landfrauenverein nach 1945

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20. April 1946 | Die Biene steht für Fleiß und Gemeinschaftssinn, für harte Arbeit und das Leben in der Natur. Nicht zuletzt deshalb ist die geflügelte Sympathieträgerin seit über einhundert Jahren selbstgewähltes Symbol der Landfrauen. Elisabet Boehm legte im Jahre 1898 in Ostpreußen mit ihrem „Landwirtschaftlichen Hausfrauenverein“ den Grundstein einer Bewegung, die vielen Frauen neue Möglichkeiten eröffnete. Boehm setzte nicht nur auf Weiterbildung, sondern förderte auch die Vermarktung landwirtschaftlicher Produkte in eigenen Verkaufsstellen – was Frauen erstmals erlaubte, selbst ein Einkommen zu erzielen. Nach der Machtübernahme der NSDAP befürwortete Boehm jedoch auch die Aufnahme der Landfrauen in den die NS-Ideologie vertretenden Reichsnährstand.  Ein Teil der bisherigen Mitglieder zog sich bewusst in die innere Emigration zurück oder trat aus.

Des Volkes Stimme | Im Zeichen der Biene – In Alfdorf entsteht der erste Landfrauenverein nach 1945

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Nach Ende des Zweiten Weltkriegs musste daher eine neue Landfrauenbewegung unter einem neuen Namen entstehen. Die amerikanische Besatzungsmacht unterstützte diesen Prozess aktiv im Rahmen der „Re-education“. Im kleinen Alfdorf bei Schwäbisch Gmünd gründete Margarethe Freifrau vom Holtz gemeinsam mit Marie-Luise Gräfin Leutrum von Ertingen und anderen Aktivistinnen am 20. April 1946 den ersten „Landfrauenverein“ im damaligen Württemberg-Baden. Jede Frau im Dorf ansprechen, von der Bäuerin bis zur Pfarrersfrau, explizit auch die Frauen der Arbeiter – diesen Grundsatz schrieb Marie-Luise Gräfin Leutrum von Ertingen den Alfdorferinnen bei einem Besuch im November 1946 buchstäblich ins Stamm- beziehungsweise Gästebuch. Leutrum reiste in dieser Zeit unentwegt durch das Ländle und animierte Frauen zur Gründung von Ortsvereinen; im Folgejahr gelang es ihr, den Landfrauenverband Württemberg-Baden ins Leben zu rufen, dessen Vorsitzende sie wurde. Der LandFrauenverband Württemberg-Baden ist der erste Landesverband der Landfrauen in den westlichen Besatzungszonen. Kurz darauf initiierte Gräfin Leutrum die Gründung des Deutschen Landfrauenverbandes, der ein Jahr später in Bonn – Bad Godesberg gegründet wurde. Gräfin Leutrum wurde zur ersten Präsidentin des Deutschen LandFrauenverbandes gewählt.

Seit der Neugründung in der Nachkriegszeit hat sich das Profil des Landfrauenverbands abermals gewandelt. Statt für Frauen einzutreten, die hauptsächlich in landwirtschaftlich geprägten Umfeldern („Haus und Hof“) tätig sind, stehen nun Frauen auf dem Land im Mittelpunkt der Aktivität. In den 1980ern regte der Landesverband grundlegende Diskussionen zu den Themen Heimat und Zukunft des ländlichen Raumes an. Mit eigenständigen Seminaren soll Frauen der Weg in die Kommunalpolitik geebnet und mit Nachdruck der Wert weiblicher Tätigkeit in Beruf und Familie öffentlich betont werden. Dabei machen die Aktivistinnen nicht vor Ländergrenzen halt: Anfang der 1990er Jahre bildeten sich Kontakte zu Frauenvereinigungen im Baltikum sowie in verschiedenen afrikanischen Staaten aus. Seit 2005 unterstützt der Landesverband Selbsthilfeprojekte in Kenia, mit denen unter anderem das Auskommen verwitweter Frauen und verwaister Mädchen gesichert werden sollen.

LandFrauen von heute ziehen erfolgreich Honig aus ihrer Herkunft und bieten einen Blumenstrauß voller Ideen und Projekte.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • LandFrauenverband Baden-Württemberg: Homepage.
  • Anke Sawahn: Die Frauenlobby vom Land. Die Landfrauenbewegung in Deutschland und ihre Funktionärinnen 1898 bis 1948, Frankfurt am Main 2009.
  • Landfrauenverband Württemberg-Baden (Hg.): Rückblicke – Einblicke – Ausblicke, 1947-1997. 50 Jahre Landfrauenverband Württemberg-Baden e.V. , Stuttgart 1996.

/// Gebildet in der Kneipe: Was es damit auf sich hat, lesen Sie am 23. April.

(K)ein Elendsgebiet – der Protest gegen die Schließung des Audi/NSU-Werks in Neckarsulm

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18. April 1975 |  Im Februar 1975 titelte die Tageszeitung „Heilbronner Stimme“ Schockierendes: Der Vorstand des VW-Konzerns, zu dem auch Audi/NSU gehörte, habe die Schließung des Standorts am Neckar beschlossen. Damit wollte man Überkapazitäten abbauen, die sich in Folge des Ölpreisschocks ergeben hatten und zeitgleich die Produktion rationalisieren, galten doch die Neckarsulmer als schwächstes Glied des Konzerns. Welche sozialen Folgen der Entschluss haben könnte, machte die Wochenzeitung „ZEIT“ klar, die von einem drohenden Elendsgebiet um Heilbronn schrieb, wenn die Fertigungstradition erlischte.

Am Morgen des 18. April 1975 demonstrierten zwischen 7.000 und 8.000 Automobilbeschäftigte mit einem Marsch nach/durch Heilbronn gegen die Entlassungspläne. Der Widerstand gegen die seit Jahresanfang gerüchteweise in der Luft liegenden Werksschließung hatte sich allmählich aufgebaut. Trotzig hatte der Betriebsratsvorsitzende Karl Walz gedonnert: „Solang mer no schnauft, is mer net tot.“ IG-Metall und Arbeiterschaft fühlten sich von der Konzernspitze hintergangen, sie sahen ihre Identifikation mit dem Werk und den gebauten Fahrzeugen nicht wertgeschätzt. Klaus Zwickel, Erster Bevollmächtigter der IG-Metall-Verwaltungsstelle Neckarsulm, zeigte sich besonders resolut und setzte auf harte Konfrontation bis hin zum „Wilden Streik“.

Des Volkes Stimme | Streik gegen die Schließung des NSU/Audi-Werkes in Neckarsulm

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Mit dem Ro 80, einem Wankelmotorenfahrzeug, war Audi in Sachen automobiler Innovation dermaßen vorangeprescht, dass Kundinnen und Kunden vor dem störungsanfälligen Spritfresser zurückschreckten. Nicht zuletzt dessen schlechte Absatzzahlen wirkten sich schnell existenzbedrohend auf das Neckarsulmer Audi/NSU-Werk aus, wo der Ro 80 gefertigt wurde. Seit den 1960er Jahren spielten vor Ort ausländische Arbeitskräfte eine besondere Rolle, wie der Historiker Arnd Kolb nachweisen konnte. Diese Gruppe stellt im Jahre 1973 rund 43 % der Beschäftigten bei Audi/NSU Neckarsulm. Sie waren es auch, die in den Krisenjahren 1974/75 hauptsächlich auf die Straße gesetzt wurden (6.500 Arbeiter wurden entlassen, zwei Drittel von ihnen waren Ausländer). Mit Prämien für die Rückkehr in ihre Herkunftsländer wollte man die nun wirtschaftlich lästig Gewordenen abspeisen und loswerden.

Die Bilanz des energischen Protests liest sich durchwachsen: Mehr als die Hälfte der Neckarsulmer Belegschaft wurde arbeitslos, doch das Werk war gerettet. Ein hoher Preis für den Automobilstandort um Heilbronn. In den kommenden Jahren sah sich die Konzernspitze zudem gezwungen, erneut ausländische Arbeitskräfte anzuwerben, um jene kraftzehrenden und niedrig bezahlten Arbeiten ausführen zu lassen, für die sich zu wenig Einheimische fanden.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Arnd Kolb: Autos – Arbeit – Ausländer. Die Geschichte der Arbeitsmigration des Audi Werks Neckarsulm, Bielefeld 2011.
  • Heinz Michaels: Falls das Autowerk geschlossen wird. Stadt auf dem Pulverfass, in: DIE ZEIT 24. Januar 1975 (Onlinearchiv).
  • Peter Brügge: „Solang mer no schnauft, is mer net tot“, in: DER SPIEGEL 10.03.1975 (Onlinearchiv).

/// Etwas beschaulicher und ländlicher wird es in unserem kommenden Eintrag am 20. April.

„Wenn der Hahn kräht …“ – der Reutlinger Schulstreik gegen den NC-Erlass

Ein Kommentar

15. April 1970 | „Wenn der Hahn kräht, wachen die Schüler auf!“ Mit diesem Slogan überschrieb die Bezirks-Schülermitverantwortung (SMV) Tübingen-Reutlingen ein Flugblatt, das in den heißen Reutlinger Tagen des Protests von Hand zu Hand ging. Den Begriff „Klassenkampf“ hatten die Schülerinnen und Schüler der Reutlinger Gymnasien wörtlich genommen. Und sie waren nicht die einzigen:  In 40 Städten Baden-Württembergs forderte die junge Generation die Abschaffung des 1968 eingeführten Numerus Clausus, der Zugangsbeschränkung auf besonders gefragte Fächer. Damit nicht genug: Auch für eine prinzipiell bessere Bildungspolitik und mehr Mitspracherecht an den Schulen wurde gestreikt.

Aus Unterlagen des Isolde-Kurz-Gymnasiums (Reutlingen) geht hervor, dass die Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen 6 bis 9 zu 90 % für den Streik gestimmt hatten; 391 von 517 SchülerInnen der Jahrgangsstufen 4 bis 9 beteiligten sich schließlich an der Arbeitsniederlegung. So berichtete die „Südwestumschau“ am Donnerstag, den 16. April 1970: „In Reutlingen beteiligten sich fast 3.000 streikende Schüler an einem Demonstrationszug, bei dem auf Spruchbändern die Bevölkerung aufgefordert wurde, sich mit dem dreitägigen Streik (…) zu solidarisieren.“

 

Manche Eltern und Lehrer gingen diesem Aufruf nach und schlossen sich den Streikenden an. Auch am Friedrich-List-Gymnasium in Reutlingen wurden Hefte und Tafeln nicht genutzt. Die Klassentagebüchern blieben die Tage leer, nur ein Wort ist darin zu lesen: „Streik“.

Hauptangriffsziel der Schüler war der damalige Kultusminister Wilhelm Hahn. In einer Erklärung versprach der CDU-Politiker verschmitzt: „Geben Sie mir Geld und ich baue den Numerus Clausus sofort ab.“  Zwar sagte Hahn zu, das Anliegen der Streikenden an die Landesregierung weiterzugeben, doch lehnte er den Streik als Mittel der Mitbestimmung ab. Disziplinarische Maßnahmen für die Streikenden gab es hingegen keine, befürchteten doch die Verantwortlichen, dass dies dem Streik nur zusätzlichen Aufwind geben würde. Zudem stünde dies in keinem Verhältnis zum insgesamt friedlichen Verlauf.

 

Insgesamt beförderte der Streik die Kultur der Mitbestimmung und des kritischen Engagements der SchülerInnen, auch wenn das eigentliche Ziel verfehlt wurde, nämlich die Abschaffung des NC-Erlasses. Was einst als Notmaßnahme eingeführt worden war, behielt seine Gültigkeit bis zum heutigen Tage.

(In Zusammenarbeit mit Frau Clara Ebert, für deren umfassende Recherche und Co-Autorenschaft an dieser Stelle herzlich gedankt sei).


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Frieder Kernen: Streik der jungen Schwaben. Uber 10000 Schüler gingen auf die Straße, in: DIE ZEIT 24. April 1970 [online].
  • o.A.: Nicht mehr drin, in: DER SPIEGEL 20/1970 [online].
  • Stefan Paulus: „Konservativ und fortschriftllich zugleich“. Baden-Württembergische Bildungspolitik in den 1960er- und 1970er-Jahren, in: Philipp Gassert/Reinhold Weber (Hgg.): Filbinger, Wyhl und die RAF. Die Siebzigerjahre in Baden-Württemberg (= Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs, Bd. 42), Stuttgart 2015, S. 157-178.

/// Auch am 18. April wird auf dieser Seite wieder gestreikt. Zu Lesen wird es dennoch etwas geben.

Lauter Störfälle – die Schönauer Stromrebellen übernehmen das Stromnetz

Ein Kommentar

10. März 1996 | Spannung ist messbar, das bestätigt jeder und jede ElektrotechnikerIn. Die emotionale Spannung, die an diesem besonderen Wahlabend in der kleinen südbadischen Kommune Schönau herrschte, war unermesslich: Wer würde im jahrelangen Ringen um das Stromnetz den Sieg davontragen: Die Stromrebellen oder der etablierte Versorger, die „Kraftübertragungswerke Rheinfelden“ (KWR)? Der Aufbruch in die Zukunft der Energieversorgung in Schönau begann mit einer Katastrophe, die sich über 1.600 Kilometer weiter östlich abgespielt hatte, mit dem Reaktorunfall von Tschernobyl. Das Ehepaar Ursula und Michael Sladek ergriff zusammen mit anderen alarmierten Schönauern die Initiative und nahmen den Kampf gegen Nutzung der Kernkraft im eigenen Land auf.

Des Volkes Stimme | Lauter Störfälle – die Schönauer Stromrebellen übernehmen das Energienetz

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Durch energisches Stromsparen sollte den großen Stromkonzernen das Geld abgegraben werden. Jedoch wuchs rasch die Erkenntnis, dass die Lösung nur eine vollständige Loslösung von der Abhängigkeit externer Stromversorger sein konnte: Ende 1990 gründet sich die Netzkauf Schönau GbR. Anfang 1991 verlängerte der Gemeinderat den bestehenden Konzessionsvertrag mit der KWR, die auf Atomkraft setzte und als kapitalkräftiger Stromanbieter für viele Menschen vor Ort die sicherere Wahl darstellte. Die Stromrebellen von der Netzkauf organisierten daraufhin einen Bürgerentscheid, der im Oktober 1991 richtungsweisend ausging: 55,7 % stimmten für die Aufnahme von Verhandlungen zum Kauf des lokalen Stromnetz.

Je enger, desto größer der Widerstand, ist eine weitere Regel in der Elektrolehre. Enger wurde es für die KWR nach der Gründung der Elektrizitätswerke Schönau (EWS) im Jahre 1994. Nachdem der Gemeinderat im November 1995 entschieden hatte, der EWS den Konzessionszuschlag zu geben, strebte diesmal die unterlegene CDU-Fraktion einen Bürgerentscheid an, um das „drohende Abenteuer“ abzuwenden. Während die KWR und die Bürgerinitiative „Pro Bürgerentscheid“ mit Zahnbürsten, Flugblättern und moderner Technik eine sichere Stromversorgung und stabile Preise versprachen, warben die Stromrebellen mit Marmelade, nachhaltigen Argumenten und viel persönlichen Einsatz für ein „Nein“ zur Verlängerung des KWR-Vertrags. Am Wahlabend zeigte sich erneut, wie zerrissen die Kommune bezüglich der Stromfrage war: Mit lediglich rund 54 % der abgegebenen Stimmen erteilten die Schönauer dem alten Stromversorger KWR eine Absage. Die siegreichen Stromrebellen traten nun die mühevolle Aufgabe an, das Stromnetz aufzukaufen und die Elektrizitätsversorgung in eigene Hände zu nehmen.

Das Schönauer Beispiel hat Schule gemacht: Einige Kommunen in Deutschland betreiben bereits die lokale Stromversorgung in Eigenregie, in BürgerInnenhand.


Zum Weiterlesen und -schauen:

  • Bernward Janzing: Störfall mit Charme. Die Schönauer Stromrebellen im Widerstand gegen die Atomkraft, Vöhrenbach 2008.
  • DVD: Die Schönauer Gefühl. Die Geschichte der Stromrebellen aus dem Schwarzwald. Eine Produktion des Fördervereins für umweltfreundliche Stromverteilung und Energieerzeugung Schönau im Schwarzwald e.V., Schönau 2007.

/// Am 12. März geht es spannend weiter: Frauenpower an der Uni in unserem Onlinekalender.

Der Zukunft eine Stimme – der Jugendgemeinderat in Weingarten

2 Kommentare

7.  März 1985 | Wer im oberschwäbischen Weingarten lebt, muss sich um die Zukunft der Demokratie weniger Sorgen machen. Dort wird die jeweils nächste Generation bereits seit über 30 Jahren aktiv an der Kommunalpolitik beteiligt. Erstmals in einer deutschen Gemeinde überhaupt wählten am 27. Februar 1985 rund 800 Schülerinnen und Schüler zwischen der 7. und 10. Klasse ihre Vertretung. Alles war wie bei den Erwachsenen: Verteilt auf vier thematische Wahllisten kandidierten 90 Jugendliche, die Stadtverwaltung stellte Wahlurnen und -kabinen auf und an jeder Schule wachte ein Wahlvorstand über den Ablauf. Nur die Wahlbeteiligung sah völlig anders aus: 92,8 % der wahlberechtigten Jugendlichen machten mit – die Erwachsenen konnten sich im Vergleich dazu nur schämen.

Des Volkes Stimme | Der Zukunft eine Stimme – der Jugendgemeinderat in Weingarten

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Auch die erste Sitzung des Jugendgemeinderats am 7. März war keine Show. Ab 9 Uhr tagte der 26-köpfige Rat im Großen Sitzungssaal unter der Leitung des Oberbürgermeisters Rolf Gerich und in Anwesenheit der Vorsitzenden der Gemeinderatsfraktionen sowie der städtischen Amtsleiter. Viele der behandelten Themen kamen den Gemeinderäten bekannt vor: Hallenbad, Müll, Radwege, Nahverkehr und Tempo 30 – nur alles aus der Sicht der Jugendlichen. Ein besonderes Jugendthema stand dann aber doch noch im Mittelpunkt: der schlechte Zustand des Jugendhauses. Nach den Sommerferien sollte in der nächsten Sitzung über Fortschritte berichtet werden.

Für Oberbürgermeister Rolf Gerich war die Sitzung ein großer Erfolg. Er wollte die Jugendlichen mit seiner Idee ausdrücklich in die Verantwortung für ihre Stadt nehmen und gleichzeitig der eigenen Verwaltung neue Impulse geben. Neun Jahre zuvor hatte er Jugendlichen bereits das Fragerecht bei Gemeinderatssitzungen gegeben. Das von den Vereinten Nationen für 1985 ausgerufene „Internationale Jahr der Jugend“ brachte ihn darauf, noch einen Schritt weiter zu gehen und den Rat ins Leben zu rufen.

Weingarten wurde so zum Vorbild. Inzwischen bestehen rund 100 Jugendgemeinderäte in Baden-Württemberg, deutlich mehr als in den anderen Bundesländern.


Zum Weiterlesen und -forschen:

/// Alle Räder stehen still, wenn ein Frauenarm es will. Zum morgigen Weltfrauentag wird es kämpferisch in unserem Onlinekalender.

Der Remstalrebell – wie Helmut Palmer Oberbürgermeister wurde (beinahe)

8 Kommentare

3. März 1974 | Mit Speck fängt man Mäuse, und mit „Rebellenwurst“ Wählerinnen und Wähler? Wenn diese Wurst auch noch von einem Obsthändler großzügig verteilt wird, befinden wir uns mitten in einem der kuriosesten Kommunalwahlkämpfe der jüngeren Vergangenheit. Insgesamt rund 300 Mal versuchte der Ausnahmepolitiker Helmut Palmer seit Mitte der 1960er Jahre bis in die 90er in verschiedenen Kommunen und Städten Baden-Württembergs auf einen Bürgermeisterstuhl gehoben zu werden – stets erfolglos. Für die einen war er ein „Volkstribun“, ein schwäbischer Don Quijote gegen Bürokraten und Amtsstubenherrschaft, einer „für den kleinen Mann“. Für andere wiederum ein „kleiner Adolf“, ein ungehobelter Querulant des Politgeschäfts oder schlichtweg ein Verrückter.

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Anlässlich der Oberbürgermeisterwahl in Schwäbisch Hall im Februar/März 1974 lieferte Palmer sein Meisterstück ab. Er wetterte gegen die Stadtverwaltung und deren vermeintliche Faulheit, beleidigte auf das heftigste politische Mitbewerber und sonstige Palmer-Gegner („Schleimscheißer“; „Lausbub“; „Sudelsäue“). Doch Palmer war auch ein Visionär: Er forderte den Bau einer Seilbahn, eines Parkhauses über dem Fluss Kocher, eine autofreie Innenstadt und Maßnahmen zur Verbesserung der Verkehrssicherheit (wenn auch mit fraglichen Mitteln, wenn er eigenmächtig zum Fällen von Bäumen an Straßen aufrief). Menschen, die sich von den etablierten Politikern nicht gehört und ernstgenommen fühlten, setzten ihre Hoffnung auf den Unabhängigen. Zudem erfuhr der Remstalrebell finanzielle Unterstützung durch einen lokalen Unternehmer, der noch eine Rechnung mit der Stadtverwaltung offen hatte. Gemeinsam mit den Spenden seiner Fans konnte Palmer einen Vollzeitwahlkampf aufziehen. Nach gewonnenen erstem Wahlgang er holte rund 41 %, sein nächster Mitbewerber, der von der CDU unterstützte Karl-Friedrich Binder, lediglich 30 % stand die Kleinstadt politisch Kopf und eine Stichwahl musste die Entscheidung bringen. Die Augen Westdeutschlands waren auf die ehemalige Reichsstadt gerichtet.

Als am 3. März 1974 Helmut Palmer sich mit 41,4 % dem konservativen Platzhirsch Binder geschlagen geben musste, war des Rebellen Geist nicht gebrochen. Tausende SympathisantInnen jubelten ihm zu, während Palmer vom Marktplatzpranger herab von einem „ergaunerten Wahlsieg“ des „Schmutzlappen“ Binders sprach.

Palmers größter Erfolg war vielleicht nicht sein gutes Abschneiden in Hall, sondern die Tatsache, dass sich etablierte PolitikerInnen über die wachsende Entfremdung mit dem Wahlvolk und neue Formen des bürgerschaftlichen Engagements Gedanken machen mussten.

PS: Üblicherweise sehen wir davon ab, auf Stil und Inhalt der Sprecherkommentare in den historischen Filmbeiträgen einzugehen. In diesem Fall wollen wir jedoch eine Ausnahme davon machen: Die offenen sprachlichen Angriffe auf Helmut Palmer können wir nur kopfschüttelnd wahrnehmen. Hier wurden offensichtlich alle Grundsätze von journalistischer Objektivität, Sachlichkeit und Neutralität über Bord geworfen.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Jan Knauer: Bürgerengagement und Protestpolitik. Das politische Wirken des „Remstalrebellen“ Helmut Palmer und die Resonanzen seiner Mitmenschen. Dissertation, Univ. Tübingen, 2012.
  • Jan Knauer: Helmut Palmer: Der Remstal-Rebell. Darmstadt 2014.
  • Helmut Palmer: Mein Kampf und Widerstand im Filbingerland, Genf 1978.

/// Am 5. März wird ein ganz Großer zu Grabe getragen.

Geschichte wird aufgearbeitet – der „Russenfriedhof“ in Biberach

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23. Februar 1985 | Die Stille eines besonderen Friedhofs schrie Anfang der 1980er Jahre förmlich nach einer Wende zum Besseren. Seit seiner Einrichtung im Jahre 1950 lag die im Volksmund als „Russenfriedhof“ benannte Kriegsgräberstätte weitgehend unbeachtet und ungepflegt dar. 614 Sowjetbürgerinnen und -bürger hatten hier ihre letzte Ruhestätte gefunden: Als Kriegsgefangene und verschleppte Zivilisten waren sie in Folge von Zwangsarbeit und unmenschlicher Behandlung zu Tode gekommen.

Ein neuer Geist zeigte sich mit der Friedensbewegung, die in den 1980er Jahren auch im oberschwäbischen Biberach aktiv war. Berthold Seeger, damaliger Geschäftsführer der katholischen Friedensinitiative Pax Christi in der Diözese Rottenburg-Stuttgart, sah mit seiner Biberacher Ortsgruppe die Versöhnungsarbeit mit der Sowjetunion, Polen und anderen osteuropäischen Staaten als zentrale Herausforderung an. Schnell rückte die Kriegsgräberstätte als lokaler Bezugsort ins Gedächtnis der Aktiven.

 

Den erinnerungsgeschichtlichen Stein brachte zudem die Geschichts-AG der Dollinger Realschule ins Rollen. „Unbewältigte Zeitgeschichte“ lautete das Thema des Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten im Schuljahr 1982/83. Die SchülerInnen Stefan Blum, Thomas Haag und Heidi Perchner nahmen gemeinsam mit dem Lehrer Reinhold Adler die sowjetische Kriegsgräberstätte unter die Lupe. Die jungen HistorikerInnen in spe setzten sich weiterhin dafür ein, die kyrillische Inschrift auf dem Gedenkstein um eine deutsche Übersetzung zu ergänzen.

Zugleich wirkten die Initiative „Ohne Rüstung leben“ und Pax Christi darauf hin, dass Biberach eine Städtepartnerschaft mit Teladi (heute in Georgien) einging. Die anlaufende Perestroika-Politik in der Sowjetunion machte fortan vieles möglich, was vorher undenkbar erschien. Während 1967 das geplante Aufstellen eines russisch-orthodoxen Kreuzes auf der Kriegsgräberstätte noch seitens deutscher Behörden als zu provokativ für die sowjetische Seite abgelehnt worden war, startete Pax Christi 1985 einen neuen, nunmehr erfolgreichen Anlauf. Passenderweise, so Berthold Seeger, konnte man den Besuch des Patriarchen der Georgischen Orthodoxen Kirche in Biberach in das Gebetsgedenken anlässlich der Aufstellung des Kreuzes einbetten.

Es folgten Besuche der Pax Christi-Aktiven in Moskau 1987 sowie „Russische Wochen“ in Biberach, um der Geschichte der 614 (noch) namenlos begrabenen Sowjetmenschen zu gedenken. Sogar in der sowjetischen Tageszeitung Isvestija erschien 1989 ein Artikel über die Biberacher Aktivitäten. 570 Toten erhielten 1991 ihre Namen zurück: Die aufgestellten Plaketten waren durch Spenden der Biberacher Bürgerschaft finanziert worden.

Besonders danken möchten wir Herrn Berthold Seeger für die schriftlichen Auskünfte, dem Stadtarchiv Biberach für Archivgut sowie dem Biberacher Friedensbündnis für die Vermittlung von Kontakten.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Reinhold Adler/Joachim Guderlei: Ein Friedhof der Namenlosen in Biberach. Zur Entstehung des Friedhofs für sowjetische Soldaten und Zwangsarbeiterinnen, in: Zeit und Heimat. Beiträge zur Geschichte, Kunst und Kultur von Stadt und Kreis Biberach 32. Jg. (1989), H. 2, S. 49-57.
  • Ulrike Puvogel/u.a.: Gedenkstätten für die Opfer des NS. Eine Dokumentation, Bd. I, Bonn 1995, S. 24.
  • Hans-Otto Binders: „Biberach von 1945 bis zur Mitte der sechziger Jahre“, in: Dieter Stievermann/u.a. (Hgg.): Geschichte der Stadt Biberach, Stgt. 1991, S. 603-646, hier S. 632f..
  • Bestände des Stadtarchiv Biberach (u.a.): L 20 Adler, Reinhold;  G 43 Bauverwaltungsamt.

/// Seit Jahrzehnten heiß umkämpft und diskutiert. Was, das erfahren Sie am 23. Februar in unserem Onlinekalender.

Nai hämmer g’sait – das AKW-Baugeländes Wyhl wird besetzt

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18. Februar 1975 | Viele Menschen im südbadischen Wyhl am Rhein und in Marckolsheim im Elsass waren Mitte der 1970er Jahren überzeugt: Vor Ort stellt sich die Frage nach „Pest oder Cholera“ schon nicht mehr. Ihre Behörden und Regierungen hatten sich einfach für beides entschieden. Im September 1974 startete ein Münchner Chemiekonzern in Marckolsheim mit dem Bau eines Bleichemiewerks. Allerdings wurde der Bauplatz umgehend von Umweltbewegten links und rechts des Rheins besetzt, die unter anderem ein „Freundschaftshaus“ einrichteten und den Protest am Laufen hielten.

Plakat "Nai hämmer gsait!"
Plakat „Nai hämmer gsait!“ Bild: Haus der Geschichte

Am 17. Februar 1975 rollten in Wyhl die Baumaschinen an, um mit dem Bau eines Kernkraftwerks zu beginnen. Diese (und andere) müssten gebaut werden, sonst gingen noch vor 1980 die Lichter aus, wie der baden-württem-bergische Ministerpräsident Hans Karl Filbinger eindringlich warnte. Zunächst gingen jedoch die Motoren der Maschinen aus, nachdem hauptsächlich Hausfrauen sich am 18. Februar wütend den Bauarbeitern entgegengestellt hatten. Der weiblichen Avantgarde folgten die Männer: Gerd Auer erinnert sich als Zeitzeuge, wie Aktivisten sich an einen Kran klammerten und diesen letztendlich Schachmatt setzten. Zelte wurden aufgestellt, es wurde gekocht, diskutiert. Die angerückte Polizei beschränkte sich auf das Fotografieren der Besetzenden sowie auf das Ausstellen von hohen Geldstrafen. Während am Folgetag lokale CDU-Politiker wie Hermann Person noch den Dialog suchten, erregte Filbinger mit seiner These, dass die Proteste in Wyhl von bundesweit organisierten Extremisten gesteuert werden würden, massiven Unmut. Sogar einzelne Ortsverbände der CDU warfen dem Landeschef Kurzsichtigkeit vor. Auf Protestschildern tauchte immer häufiger eine Klarstellung der eher konservativ-wählenden Bevölkerung um Wyhl auf: „Ihr Stuttgarter Herre, gän blo acht, daß ihr üs Kaiserstühler keini Radikali macht!“

Am 20. Februar wurden die 150 Besetzenden gewaltsam mit Wasserwerfern von der Baustelle vertrieben. Männer hätten geweint, erinnert sich Annemarie Sacherer an die Ausnahmesituation. Doch der Kampfgeist war damit nicht gebrochen. Zahlreiche Bürger- und Umweltinitiativen blieben standhaft, das Gelände wurde erneut besetzt und mit umweltpolitischen Leben erfüllt. Zeitzeuge Walter Mossmann warnt allerdings davor, den Protest zu harmonisch zu zeichnen und die internen Spannungen nachträglich zu verwischen. In manchen Punkten habe Einigkeit bestanden, jedoch keine Einheitlichkeit. Erfolgreich waren sie, die CDU-Mitglieder und Linken, die Winzer und Hausfrauen, die Umweltschützenden und Schöpfungsbewahrer, am Ende doch. 1977 wurde der Bau eingestellt und Wyhl trat die Karriere als Mythos und Ikone der Umweltbewegung an.

Ach ja, die Lichter gingen nicht aus.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Archiv der Badisch-Elsässischen Bürgerinitiativen: Wyhl.
  • Mitwelt.de: Umfassende Dokumentation zu Wyhl, bspw. zu den Protestplakaten jener Jahre.
  • Hanno Hurth/Gerhard A. Auer (Hg.): Siebenunddreißig Wyhl-Geschichten, Emmendingen 2014.
  • Bernd Nössler/Margret de Witt (Hg.): Wyhl. Kein Kernkraftwerk in Wyhl und auch sonst nirgends. Betroffene Bürger berichten, Freiburg 1976.
  • Nina Gladitz (Hg.): Lieber aktiv als radioaktiv. Wyhler Bauern erzählen. Warum Kernkraftwerke schädlich sind. Wie man eine Bürgerinitiative macht und sich dabei verändert, Berlin 1976.
  • Manfred Richter: Bürger, helft Euch selbst. Wyhl – ein Beispiel. Ein Fotodokument, Reinach 2015.

/// Eine Stimme haben, auch in einer anderen Sprache: Am 20. Februar decken wir das nächste Kalenderblatt auf.

Nichts ging mehr – der sexy-mini-super-flower-pop-op-Streik 1974

Ein Kommentar

10. Februar 1974 | Die 70er, das war doch dieses sexy-mini-super-flower-pop-op-Jahrzehnt. Mit Willy Brandt war seit 1969 erstmals ein Sozialdemokrat Bundeskanzler und trotz Unkenrufen der auf die Oppositionsbank verbannten CDU/CSU war die Bundesrepublik nicht schlagartig untergegangen. Sogar die Müllabfuhr funktionierte. Noch, denn am 10. Februar 1974 passierte es: Die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes waren in den Streik getreten. Der Müll wurde nicht abgeholt, Busse und Straßenbahnen blieben in den Depots.

 

Weshalb war streiken plötzlich sexy geworden? Seit Anfang der 70er Jahre kletterte die jährliche Inflationsrate von 3,6 % (1970) auf den Rekordwert von 6,9 % (1974), die Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst wuchsen nur minimal. Das war super unbefriedigend. Auch in anderen Branchen rumorte es gewaltig: An den Basen verschiedener westdeutscher Gewerkschaften wuchs die Streikbereitschaft und wo die Gewerkschaftsbosse nicht schnell genug oder zu sozialpartnerschaftlich eingestellt waren, kam es mitunter zu „Wilden Streiks“.

Mittels empfindlicher Warnstreiks konnte die Gewerkschaft „Öffentliche Dienste, Transporte und Verkehr (ÖTV)“ die Zahlung eines 13. Monatsgehalts Ende 1973 durchsetzen. Zu wenig, wie schnell klar wurde. Und da sich mit Flower-Power nur unzureichend Rechnungen zahlen lassen, stieg unter anderem ÖTV-Chef Heinz Kluncker – Spitzname „Der Dicke“ – noch einmal in den Ring und forderte Lohnsteigerungen von 15 %. Willy Brandt nannte den Vorstoß „ungebührlich“, eine wenig populäre Haltung bei den Gewerkschaftlern. Es folgte ein opulenter dreitägiger Streik in der gesamten Bundesrepublik, unter anderem mit Schwerpunkten in Mannheim, Stuttgart, Karlsruhe und Ulm. Im Vergleich zum Streik von 2006 blieb er jedoch überschaubar.

11% - mindestens aber 170 DM mehr brachte der Streik ((Bildnachweis: ÖTV-Magazin Nr. 3 (1974), ver.di-Archiv Berlin).
11 % – mindestens aber 170 DM mehr brachte der Streik (Bildnachweis: ÖTV-Magazin Nr. 3 (1974), ver.di-Archiv Berlin).

Einige nahmen die Situation mit Humor: Einen „billigen Volksfeiertag“ nannte der Mannheimer Stadtoberrechtsdirektor Demke den Umstand, dass Falschparker nun keine Knöllchen von den streikenden Politessen zu erwarten hatten.

Doch hagelte es auch Kritik aus der Bevölkerung. Mit warmen Hintern sei gut streiken, zitierte der Reporter Rolf Winter einen 50-jährigen Arbeiter aus Stuttgart-Sillenbuch. Die ÖTV-Streikleitung erhielt Drohbriefe und -anrufe. Besonders alarmierend war der Anruf eines Mannes, der sich als NPD-Mitglied und Teil einer rechtsradikalen Anti-Streik-Gruppierung vorstellte: Er drohte dem Augsburger Streikleiter Erich Stepputat, ihn und seine Familie fertigzumachen.

Nach drei Tagen streiken standen als Ergebnis ein Lohnplus von 11 %, mindestens aber 170 DM fest. Kaum drei Monate später trat Willy Brandt zurück. Doch nicht Kluncker hatte ihn gestürzt, sondern der Ölpreisschock, die Guillaume-Affaire und innerparteiliche Querelen.

Unser Dank gilt Herrn Dr. Hartmut Simon, Leiter des ver.di-Archivs Berlin.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Rolf Winter: Nach Drohungen: Polizei schützt ÖTV-Funktionäre, in: Schwäbische Zeitung, 13. Feb. 1974, S. 3.
  • Rolf Winter: Die Gewerkschaft verliert an Sympathie, in: ebd.
  • Karl-Hein Stolberg/Dieter Mauer: In Mannheim und Ludwigshafen schlägt der Streik Wellen. Straßenbahnen stehen leer – Mülleimer laufen über, in: Mannheimer Morgen, 12. Feb. 1974, S. 11.
  • Walter Nachtmann: 100 Jahre ÖTV. Die Geschichte einer Gewerkschaft und ihrer Vorläuferorganisationen. Union, Frankfurt am Main 1996.

/// Am 12. Februar folgt unser nächster Eintrag. Ein außergewöhnlicher Minister gibt sich die Ehre.

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