Im Notfall – Die Björn Steiger Stiftung hilft Leben zu retten

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7. Juli 1969 | Sein kurzes Leben fand ein tragisches Ende: Nach einem Schwimmbadbesuch wurde der erst acht Jahre alte Björn Steiger am 3. Mai 1969 von einem Auto angefahren. Bis der Krankenwagen eintraf, war rund eine Stunde vergangen und der Junge verstarb auf der anschließenden Fahrt ins Krankenhaus an einem Schock. Das Unglück versuchten Björns Eltern, Siegfried und Ute Steiger, aktiv zu verarbeiten und veränderten dabei grundlegend die Notfallrettung. Krankenwagen waren in jenen Jahren noch unregelmäßig und ohne Sprechfunk unterwegs, die Notfallnummern 110 und 112 beschränkten sich auf Ballungsgebiete und Notärzte waren eine Seltenheit. Mit der Gründung der Björn Steiger Stiftung am 7. Juli 1969 wollten die Steigers auf diese Mängel hinweisen und die politisch Verantwortlichen zum raschen Handeln bewegen.

Siegfried Steiger (links) überreicht 1969 eine von rund 100 Funksprechanlagen für Krankenwagen (Bildnachweis: Björn Steiger Stiftung).

Während sich Bund und Länder noch über die Zuständigkeit und die Kosten stritten, beschaffte die Stiftung bis Mitte 1970 rund 100 Funksprechanlagen für Krankenwagen. Die Region Nordwürttemberg rund um den Wohnort der Steigers Winnenden wurde auf deren Bemühungen hin zum Testgebiet für die kostenlose und flächendeckende Notrufnummer. Weil die Bundesregierung zögerte, begann die Stiftung, die Aufstellung von orangenen Notrufsäulen an Autobahnen und Bundesstraßen mit Nachdruck voranzutreiben.

Den Schnellbergungswagen entwickelt die Steiger-Stiftung in den 1970er Jahren gemeinsam mit der Feuerwehr Stuttgart und (ko)finanziert die Anschaffung von zehn Wagen. Eingeklemmten AutofahrerInnern kann nun mit schwerem Gerät geholfen werden (Bildnachweis: Björn Steiger Stiftung).

Mit den wachsenden Geschwindigkeiten im Straßenverkehr stiegen die Unfallzahlen und damit die Anzahl jener Menschen, die ohne komplizierte medizinische Eingriffe im Krankenhaus dem Tode geweiht waren. Als im Jahre 1972 die Finanzierung eines dringend gebrauchten zweiten Rettungshubschraubers auf der Kippe stand, sammelte die Björn Steiger Stiftung mit dem Verkauf von Benefiz-schallplatten sowie der Verpfändung des Wohnhauses des Ehepaars Steiger ausreichend Geld. Die Gründung der „Deutschen Rettungsflugwacht“ (heute: DRF Luftrettung) war ein weiterer Baustein zur Notfallrettung. 1974 machte das „Rettungsmodell Rems-Murr“ Schlagzeilen, handelte es sich doch um das erste wissenschaftlich erstellte Konzept für den Aufbau einer flächendeckenden Notfallhilfe.

 

Die folgenden Jahrzehnte waren geprägt durch innovative Vorschläge und Projekte, wie beispielsweise die Einführung eines speziellen Notarztwagens für Säuglinge (1974), die ersten Schritte zur Schaffung des Berufes Rettungssanitäter (1976) oder die Kampagne „Kampf dem Herztod“ (2001), die Defibrillatoren in öffentliche Gebäude brachte.  Seit 2007  lernen SchülerInnen ab der siebten Klasse durch die Kampagne „Retten macht Schule“ Wiederbelebungstechniken. Den Vorschulkindern zeigt die Stoffpuppe „Ritter Björn“, wie kinderleicht es ist, praktisch zu helfen.


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„Aktion Roter Punkt“ – Kreativ gegen Fahrpreiserhöhungen

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1. Juli 1971 | Ein kleiner roter Punkt an der Windschutzscheibe wurde in Esslingen zum Symbol eines über Wochen geführten Protests. An der Spitze der Bewegung standen Schülerinnen und Schüler sowie junge Auszubildende, die allen Grund hatten, auf die Barrikaden zu gehen. Auslöser war die Ankündigung der Städtischen Verkehrsbetriebe Esslingen sowie der Straßenbahn Esslingen-Nellingen-Denkendorf (END), ihre Fahrpreise zum 1. Juli zu erhöhen; Schülermonatskarten für die END sollten sich damit um rund 50% verteuern.

 

Die Idee hinter dem roten Punkt: An festgelegten Haltepunkten sollten mit dem Punkt gekennzeichnete Privatfahrzeuge Fahrgäste mitnehmen, die sonst regulär den ÖPNV nutzten. Damit sollte Druck auf die Verkehrsbetriebe ausgeübt werden. Um den Protest gegen die Fahrpreiserhöhungen vorzubereiten, gründete sich ein Aktionskomitee, das hauptsächlich von der linksradikalen „Gruppe Internationaler Marxisten (GIM)“ und der „Revolutionär-Kommunistischen Jugend (RKJ)“ gestellt wurde, zu dem allerdings auch die „Ökumenische Jugend“ sowie die örtliche „Naturfreundejugend“ gehörten. Die Forderungen, mit denen die Aktivisten an die Öffentlichkeit traten, boten eine visionäre Perspektive:

Für sofort: Keine Fahrpreiserhöhung; Für den Übergang: Einführung eines Einheitstarifs von 50 Pfennig; Endgültig: Nulltarif für alle, d.h. freie Fahrt zu Ausbildungsstätte und Arbeitsplatz.“ (Flugblatt Nr. 1, 8. Juni 1971)

Ab dem Jahr 1969 war in verschiedenen westdeutschen Städten mit der „Roten Punkt“-Aktion auf Fahrpreiserhöhungen reagiert worden, so beispielsweise in Hannover und West-Berlin. Die Spontiband „TON, STEINE, SCHERBEN“ hatte dem Protest sogar ein eigenes Lied („Mensch Meier“) gewidmet.

 

Am 25. Juni 1971 zogen SchülerInnen lautstark durch Esslingen und begannen mit der Sammlung von Unterschriften gegen die Fahrpreiserhöhungen. Nach eigenen Angaben sollen bis zum Ende der Aktion rund 10.000 Menschen unterschrieben haben. Mit kurzzeitigen Blockaden der Straßenbahn rund um den Esslinger Bahnhof fand fünf Tage später die Generalprobe für die kommenden Wochen statt. Pünktlich zu den neuen Preisen tauchten am 1. Juli erste PKW mit dem roten Punkt auf, die vom Aktionsstand am Bahnhof koordiniert wurden. Was zunächst schleppend anlief, funktionierte mit der Zeit immer besser. Die kommenden Wochen waren geprägt von Demos und Blockaden, wobei es immer wieder zu Spannungen zwischen der Polizei und den Demonstranten kam. Vermeintliche und reale Anführer des Protests wie der junge Metzger Wilfried Schindler wurden für sieben Tage in polizeilichem Gewahrsam festgehalten. Zwar zeigten sich lokale Gewerkschaftsvertreter verständnisvoll für das Anliegen der jungen Leute, doch mochten Mitglieder des Personalrats der Straßenbahnen nicht gegen ihren Arbeitgeber aufbegehren.

Alarmiert setzte der Esslinger Oberbürgermeister Eberhard Klappenroth eine Erhöhung der städtischen Zuschüsse für Schülerzeitkarten durch und nahm dadurch der „Roten Punkt“-Aktion den Wind aus den Segeln, die Ende Juli 1971 eingestellt wurde.

 

Rein provisorisch? – Württemberg-Baden wählt seine Verfassunggebende Versammlung

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30. Juni 1946 | Die Menschen der Nachkriegszeit mussten lernen, mit Provisorien zu leben: Notdürftig wiederhergestellte Wohnungen, kurzzeitige Arbeitsstellen, ja sogar beim Backen wurde improvisiert, denkt man an Bucheckern- und Kartoffelmehlbrot. Dass es mit so etwas Wichtigem wie der Landesverfassung auch nur etwas Vorübergehendes werden würde, war eine Befürchtung vieler Menschen in Württemberg-Baden, wie einem Kommentar in der „Stuttgarter Zeitung“ vom 3. Juli 1946 zu entnehmen war.

Stuttgarter Zeitung, 27. Juni 1946, S. 5 (Bildnachweis: HdGBW).

Woher die Unsicherheit? Seit Anfang 1946 kümmerte sich eine Vorläufige Volksvertretung, bestehend aus politischen Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und Kommunalvertretern, um den demokratischen Aufbau  in Württemberg-Baden. Über all dem wachte die US-amerikanische Militärregierung, die im Februar 1946 den nächsten Schritt anordnete: die Erarbeitung einer Landesverfassung, die zugleich keine Aussagen über die weitere Gestaltung einer gesamtdeutschen Zukunft enthalten dürfe. Dienstbeflissen machte sich eine Vorbereitende Verfassungskommission an die Arbeit und legte am 15. Juni einen Entwurf vor. Jedoch erst die Verfassunggebende Landesversammlung (VLV) sollte die abschließende Formulierung festlegen.

In Sitzen schlug sich das Ergebnis wie folgt nieder: CDU (41), SPD (32), DVP (17), KPD (10) (Bildnachweis: HdGBW).

Am 30. Juni 1946 waren die Wahlberechtigten in Württemberg-Baden aufgerufen, besagtes Gremium zu bestimmen. Zur Wahl standen CDU, SPD, die liberale Demokratische Volkspartei (DVP) und die KPD. Land und Stadt wurden mit Wahlwerbung und Kundgebungen überzogen. Auf einer CDU-Wahlversammlung in Uhingen appellierte der später in die VLV gewählte Göppinger Landrat Gotthold Brendle: „Nicht wählen heißt also, den Frieden sabotieren, die Wiederkehr der Ordnung verzögern.“ Die Christdemokraten machten sich für eine christliche Staatsauffassung mit Gottesbezug in der Verfassung stark und wollten dem „Totalitarismusanspruch der Diktatur ebenso wie [der] totalitäre[n] Demokratie“ entgegentreten, wie es Wilhelm Simpfendörfer, der spätere Präsident der VLV in einem Beitrag in der „Stuttgarter Zeitung“ vom 22. Juni 1946 klarstellte. Damit wandte sich die CDU gegen die Forderungen der KPD, die das „uneingeschränkte Selbstbestimmungsrecht des Volkes“ durch möglichst direkte Mitbestimmung und den Verzicht auf den Staatsapparat vermeintlich zum Durchbruch verhelfen wollte. Als Zugpferd im Wahlkampf setzten die Kommunisten auf Richard Scheringer, jenen berühmten Reichswehrleutnant, der 1931 aus der NSDAP aus- und als Antifaschist in die KPD eingetreten war.

 

Auch die DVP bemühte die Erinnerungen an die Weimarer Republik und wies auf die Verdienste ihrer liberalen Vorgängerpartei hin, die als Teil der Landesregierung Württemberg für Stabilität gestanden hätte. Ihr Spitzenkandidat Reinhold Maier bezog sich positiv auf die Württembergische Verfassung von 1919: „Wir hatten gebauet ein stattliches Haus“, zitierte er ein liberales Studentenlied des 19. Jahrhunderts. Die SPD trat mit Forderungen nach einer volksnahen Rechtspflege, gerechten Löhnen und dem Recht auf Eigentum bei gleichzeitiger Verpflichtung des Wirtschaftens zum Wohle der Allgemeinheit an die Öffentlichkeit.

67,5 % der Wahlberechtigten stimmten ab und am 15. Juli traten die 100 gewählten Mitglieder der VLV in Stuttgart zusammen. In den kommenden Monaten entstand jener Verfassungsentwurf, der in einer Volksabstimmung am 24. November 1946 mehrheitlich angenommen wurde. Lange blieb die Verfassung allerdings nicht in Kraft: Bereits 1953 wurde sie von der baden-württembergischen Landesverfassung abgelöst – letztendlich also doch ein Provisorium.


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Schwäbische Bastille – Die Festung Hohenasperg soll Gedenkstätte werden

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17. Juni 1980 | Beinahe majestätisch thront die Festung Hohenasperg auf einer Anhöhe nahe Ludwigsburg. Wen schützten deren trutzige Mauern? Die, die darin leben (mussten) oder all jene, die draußen wohnten? Über Jahrhunderte hinweg war die Festung Ausdruck staatlicher Macht und ein Symbol dafür, wie mit echten oder vermeintlichen Verbrechern umgegangen wurde. Auffällig viele politische Gefangene saßen hier ein. Ihre Biografien verraten einiges über die jeweilige Gesellschaft, in der sie lebten. Nach harter Kritik am Beamtenstaat kam Friedrich List im Jahre 1824 für ein Jahr hinter Schloss und Riegel und die Verhaftungswelle nach der Revolution von 1848/49 machte den Hohenasperg zum „Demokratenbuckel“, wurden hier doch Revolutionäre vom Schlage eines Gottlieb Rau interniert. Auch Revolutionäre von 1918/19 wie Fritz Rück und Mitglieder der KPD wurden während der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus hier eingesperrt. Die NS-Behörden richteten zudem zeitweise innerhalb der Mauern ein Sammellager für Sinti und Roma, für „Asoziale“ und an Tuberkulose erkrankte Häftlinge ein.

Das idyllische Bild trügt. Auch im 19. Jahrhundert war die Festung Hohenasperg ein Ort des Strafens. Die kolorierte Zeichnung des Innenhofs fertigte Johann Baptist Bauernfeind um 1849 an (Bildnachweis: Gabelin, Backnang).

In der Nachkriegszeit wuchs die Bedeutung des Hohenasperg als Gefängniskrankenhaus: Die Mauern sahen Gefangene wie den „Remstalrebell“ Helmut Palmer oder das RAF-Mitglied Günter Sonnenberg (ab 1977). Dessen Zwangsernährung wurde öffentlich heiß diskutiert und von der RAF als Beweis für ein System der „Vernichtungshaft“ ausgeschlachtet. Scharfe Kritik an den allgemeinen Haftbedingungen brachte auch der Psychiater Achim Mechler vor, der im Jahr 1979 seinen Dienst als Chef des Vollzugskrankenhauses quittiert hatte. Was hinter Gittern geschah, war immer weniger Menschen gleichgültig.

 

Mit einer Sternwanderung und einer Kundgebung am 17. Juli 1980 forderten rund 1.000 Teilnehmende in Ludwigsburg  ein Mahnmal für die freiheitlich-demokratische Bewegung in Württemberg. Zwei Jahre zuvor hatte der Historiker und Aktivist Horst Brandstätter mit seinem Buch „Asperg. Ein deutsches Gefängnis“ die Idee einer Gedenkstätte aufgebracht. Auf der Kundgebung von 1980 schlug die Schriftstellerin Luise Rinser vor, statt dem „Symbol für Law und Order“ ein Zeichen des Verbindenden zu setzen, beispielsweise mit einem Haus für schöpferische Arbeit für Jugendliche.

Mit der Eröffnung der Ausstellung „Hohenasperg – Ein deutsches Gefängnis“ im Jahr 2010 fand der Einsatz Brandstätters und des Aktionsbündnisses „Gedenkstätte Hohenasperg“ einen erfolgreichen Abschluss.  Was ist Recht, was Unrecht? Was bedeutet Freiheit, was Gefangenschaft für den Menschen? Ausgewählte Biografien  sollen hierzu Einblicke bewähren und zum Nachdenken anregen.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Haus der Geschichte Baden-Württemberg: Onlineauftritt Zweigmuseum Hohenasperg.
  • HdG BW (Hrsg.): Hohenasperg – Ein deutsches Gefängnis. Katalog zum Museum im Arsenalbau der Festung Hohenasperg, Stuttgart 2011.
  • HdG BW (Hrsg.): Asperg – Ein deutsches Gefängnis. Der schwäbische Demokratenbuckel und seine Insassen: Pfarrer, Schreiber, Kaufleute, Lehrer, gemeines Volk und andere republikanische Brut. Mit Abschweifungen über Denunzianten und Sympathisanten in alter und neuer Zeit. Zusammengestellt von Horst Brandstätter, mit einer Einführung von Jürgen Walter und einem Beitrag von Franziska Dunkel, Ubstadt-Weiher 2015.
  • Fridtjof Theegarten: Der Tränenberg soll Kulturstätte werden, in: Stuttgarter Nachrichten 18.07.1980, S. 9.

Keine „verkalkten Säckel“ – Ein Volksentscheid begräbt Badens Unabhängigkeitsbewegung

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7. Juni 1970 | Vierzehn Jahre lang rotierten die Stundenzeiger auf den Schwarzwalduhren in Baden voller Ungeduld, ehe die dritte Runde im Kampf Baden-Württemberg versus unabhängiges Bundesland Baden eingeläutet wurde. De facto hatte die Mehrheit im Südwesten im Zweiten Volksentscheid vom Dezember 1951 der Bildung des Bindestrich-Bundeslands grünes Licht gegeben. Eine Ausnahme bildete Südbaden, wo man landespolitisch lieber Single bleiben wollte. Gruppierungen wie der „Heimatbund Badnerland“ zweifelten an der Rechtmäßigkeit der Volksabstimmung und sollten 1956 durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes Karlsruhe Recht behalten. Die Abstimmung sei nicht mit den Reglungen im Grundgesetz § 29 konform abgelaufen und müsse wiederholt werden. Über das „Wann?“ machte das Gericht allerdings keine Angabe.

Des Volkes Stimme | Keine „verkalkten Säckel“ – Ein Volksentscheid löst die Badenfrage

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Die Jahre verstrichen und es wuchs immer mehr zusammen, was in den Augen Einiger nicht zusammengehörte. Das wirtschaftliche Gefälle zwischen den Landesteilen schwand und Fragen der Identität spielten eine zunehmend untergeordnete Rolle für die junge Generation. Keine „verkalkten Säckel“ seien sie, sondern Menschen, die ein „demokratisches modernes Bundesland am Oberrhein“ wollten, zitierte die Wochenzeitung „Die Zeit“ den Alt-Badener Reinhold Grund am Vorabend des Volksentscheids am 7. Juni 1970.

Die Pro-Baden-Bewegung vereinte sowohl Baden-Romantiker vom alten Schlag als auch kühl Rechnende, die in der Unabhängigkeit Möglichkeiten einer der Zukunft zugewandten Regionalentwicklung sahen. Zugleich fürchtete die Landesregierung unter Ministerpräsident Hans Filbinger, dass Befürworter eines vereinten Baden-Württembergs aus falscher Sicherheit den Urnengang als überflüssig erachteten und die Pro-Badener somit wider Erwarten siegen könnten. Doch die Überraschung blieb beim Volksentscheid aus: 81,9 % der abgegebenen Stimmen waren für Baden-Württemberg; bei einer Wahlbeteiligung von 62,5 % ein stichfestes Votum. In keinem Wahlkreis schafften es die Pro-Badener auch nur annähernd, eine Mehrheit für ihr Ansinnen zu erobern (ihr bestes Ergebnis holten sie im Stadtkreis Karlsruhe mit 36 %). Als am 19. September 1971 eine von Unbeugsamen angestrebte Volksabstimmung am notwendigen Quorum der Mindestteilnehmenden scheiterte, war klar: Der Traum vom souveränen Baden war ausgeträumt.


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Ein unbekannter Vater – Paul Zürcher und das Grundgesetz

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23. Mai 1948 | Grundlegendes wurde vor 70 Jahren verabschiedet: das Grundgesetz (GG) der Bundesrepublik Deutschland. Zunächst nur als Provisorium gedacht, hat es sich bis heute seine Gültigkeit bewahrt und bislang bestens bewährt. Seine Entstehungsgeschichte in der unmittelbaren Nachkriegszeit ist eng mit dem Verfassungskonvent im bayrischen Schloss Herrenchiemsee verbunden, der im August 1948 einberufen worden war. Gerne werden die Bevollmächtigten der elf westdeutschen Länder „Väter des Grundgesetzes“ genannt – da Frauen nicht anwesend waren, konnte von „Müttern“ ja leider keine Rede sein. Hier wurden grundsätzliche Formulierungen diskutiert und dem Parlamentarischen Rat ein Verfassungsentwurf zur weiteren Diskussion und Abstimmung überreicht. Am 23. Mai 1949 wurde das GG sodann verkündet, das mit dem Beginn des 24. Mai in Kraft trat.

Badens Mann im Verfassungskonvent: Paul Zürcher (Bildnachweis: Landesmedienzentrum 053680; Einfärbung: HdGBW/ Hemberger).

Die drei südwestdeutschen Bevollmächtigten auf Herrenchiemsee 1948 waren höchst unterschiedliche Männer: Für Württemberg-Baden saß der Staatsminister der Justiz, Josef Beyerle, am Tisch; Württemberg-Hohenzollern wurde durch den stellvertretenden Staatspräsidenten und Justizminister Carlo Schmid vertreten; und für Baden war der Präsident des Oberlandesgerichts Freiburg, Paul Zürcher, gekommen. Heute ist sein Name weithin unbekannt. Dabei lohnt es sich, an ihn zu erinnern.

Der 1893 in Sunthausen (heute Ortsteil von Bad Dürrheim) geborene Zürcher hatte nach dem Ersten Weltkrieg eine juristische Karriere begonnen und war bis 1944 Amtsgerichtsrat in Freiburg gewesen. Bereits 1935 stand er auf einer Liste von Justizbeamten, die wegen abweichender politischer Meinung versetzt werden sollten. Zürcher behielt seinen Posten, legte sich allerdings in den Jahren 1939/40 mit dem NS-Machtapparat an. Er weigerte sich vehement, die ihm vorgeschriebene Austragung des Freiburger katholischen Studentenvereins Normania aus dem Vereinsregister vorzunehmen. Die Gestapo habe das Verbot rechtswidrig vorangetrieben, so Zürchers Standpunkt. Seine Widerspenstigkeit hatte zur Folge, dass der Jurist im Jahre 1944 als Rüstungsarbeiter zwangsverpflichtet wurde. Nach der Befreiung beteiligte er sich maßgeblich am Aufbau der Badisch Christlich-Sozialen Volkspartei (dem badischen Vorläufer der CDU). Als ausgewiesener Fachmann – 1945 war er zunächst Leiter der Justizverwaltung in der französischen Besatzungszone Baden geworden – empfahl er sich für das Verfassungskonvent auf Schloss Herrenchiemsee. Hier war er vor allem als Vorsitzender des Unterausschusses III für Organisationsfragen (Aufbau, Gestaltung und Funktion der Bundesorgane) tätig.

Paul Zürcher ist somit nicht nur Teil der deutschen Verfassungsgeschichte, sondern auch der Geschichte des Widerstandes gegen die NS-Diktatur im Südwesten. Das digitale Gedenkbuch des Landtags Baden-Württemberg listet weitere ParlamentarierInnen mit diesem Hintergrund auf.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Das digitale Gedenkbuch des Landtags Baden-Württemberg: Eintrag zu Paul Zürcher.
  • Angela Borgstedt: Paul Zürcher. Amtsgerichtsrat in Freiburg, in: Heiko Maas (Hg.): Furchtlose Juristen. Richter und Staatsanwälte gegen das NS-Unrecht,  München 2017, S. 266-277 u. S. 325-326.
  • Landeszentrale für Politische Bildung Baden-Württemberg: 70 Jahre Grundgesetz.

Hand in Hand? – Ein Streik bei John Deere wird wild

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22. Mai 1973 | Ein Taschenmesser, eine Planierraupe, eine Brechstange und zahlreiche deutsche und migrantische Arbeiter mit ordentlich Wut im Bauch: Bereits diese kurze Aufzählung macht klar, dass der „Wilde Streik“ beim Landmaschinenhersteller John Deere in Mannheim ein echter sozialer Krimi war. Ein „wilder“ Streik ist zunächst eine Arbeitsniederlegung, die spontan und ohne Ankündigung von Gewerkschaften abläuft. Ganz unbeteiligt waren sie allerdings nicht, riefen doch die Ergebnisse ihrer Tarifrahmenverhandlungen nicht durchgängig Jubel hervor. Auch die harte Akkordarbeit am Band belastete die Stimmung.

 

 

In jenen Maitagen des Jahres 1973 war die Industrielandschaft Rhein-Neckar in Aufruhr: Die Welle der Arbeitsniederlegungen gipfelte im Arbeitskampf bei John Deere vom 22. bis 29. Mai. Mittendrin war der damals 20-jährige Konrad Siegel. Die Bereiche Gießerei und Montage seien wie zwei eigene Welten gewesen, der Kontakt zwischen den dort Beschäftigten eher gering. Zudem arbeiteten besonders in der Gießerei viele migrantische Arbeiter, von denen die meisten in werkeigenen Baracken hausen mussten. Donnoch sollten alle zum Streik mobilisiert werden: Ab 9 Uhr morgens zogen die ersten Streikenden durch die Werkhallen und riefen ihre Kollegen auf, sich anzuschließen. „Besonders die ausländischen Kollegen hatten keine Scheu, sich öffentlich zu zeigen, ganz nach dem Motto ,Wenn wir schon streiken, dann muss es wild und laut sein!‘“, erinnert sich Siegel. Für viele Deutsche hatte dies nicht nur etwas Exotisches an sich, sondern zugleich etwas Bedrohliches an sich, so der damalige Jugendvertreter weiter. Auch die Lehrlinge und jugendlichen Arbeiter waren in der Streikleitung ganz vorne mit dabei und riskierten den Rauswurf.

In der aufgeheizten Stimmung des Streiks sei es auch zu menschlichen Missverständnissen und Spannungen gekommen. Als ein Deutscher mit einer Planierraupe langsam auf migrantische Arbeiter zufuhr und einer davon wütend die Fensterscheibe der Fahrerkabine einschlug, gab dies den Streikgegnern zusätzlich Futter, so Siegel. „Jetzt machen die Ausländer sogar die Fabrik kaputt und verprügeln euch Deutsche“, sei von Seiten einiger Unternehmensvertreter zu hören gewesen. Trotz dieser Vorfälle sei der Zusammenhalt der Streikenden, deutscher wie migrantischer Herkunft, sehr gut gewesen: „Wir ließen uns nicht spalten“, erinnert sich Siegel.

Der Streik wurde intensiv begleitet von kommunistischen Gruppen und polarisierte die Mannheimer Öffentlichkeit extrem. Nach Ende des Streiks wurden zahlreiche migrantische Arbeiter entlassen, wogegen die IG-Metall protestierte. Die Fähigkeit zu betrieblichen Streiks bei John Deere sei in den folgenden zehn Jahren erheblich beeinträchtigt gewesen, bilanziert Konrad Siegel rückblickend. Eine positive Schlussfolgerung aus die­sem Konflikt sei, dass über die Jahre und bis heute die Notwendigkeit einer aktiven Einbeziehung migrantischer Beschäftigter in die Interessenvertretungsarbeit bei John Deere beachtet wird.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Torsten Bewernitz: „Terror der ausländischen Arbeiter“. Die „wilden“ Streiks im Rhein-Neckar-Gebiet im Mai 1973, in: Arbeit-Bewegung-Geschichte 15 (2016), H. 1, S. 63-72.

/// Und morgen wieder etwas Grundsätzliches: Unser Kalenderblatt zu 70 Jahre Grundgesetz der Bundesrepublik.

Unter Strom – Die „Eltern für atomfreie Zukunft“ werden aktiv

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19. Mai 1987 | Dass sich Eltern um ihre Kinder Sorgen machen, ist der Normalfall. Ob nun auf dem Fahrrad im Straßenverkehr, beim Klettern auf Bäumen oder beim Sport: Eltern sehen scheinbar instinktiv die Gefahren, die ihrem Nachwuchs drohen könnten. Unsichtbar, aber nicht weniger gefährlich war die Bedrohung, die nach dem verheerenden Unfall im Kernkraftwerk Tschernobyl im Jahre 1986 in Mitteleuropa viele Menschen beunruhigte. Auch im kleinen Ort Schönau im Schwarzwald lebten Eltern, die die Nachrichten über radioaktiven Regen und verstrahlte Lebensmittel mitbekamen. Der Schönauer Wolf Dieter Drescher erinnert sich:

Wer suchet, der findet: Mit einer Anzeige im örtlichen Heftli (hier eine Rekonstruktion) versammelte Familie Drescher gleichgesinnte Eltern aus Schönau (Bildnachweis: EWS).

„Nachdem dann eben auch die Situation entstanden ist, ‚Lasst eure Kinder nimmer im Sandkasten spielen!‘, da war klar: irgendetwas muss man eigentlich tun. Ich hab‘ die Anzeige im lokalen Anzeigeblatt geschaltet, zusammen mit meiner Frau unterschrieben, und war ehrlich gesagt sehr gespannt, was passiert.“

Dreschers Forsthaus wurde daraufhin zum Treffpunkt jener, die wie Ursula Sladek der Meinung waren, dass die Regierung und die Stromversorger die Risiken der Kernenergie unterschätzt hätten: „Wenn sich etwas ändern soll, müssen wir die Ärmel hochkrempeln und selbst was ändern!“, schildert die Schönauerin den Energieschub, der zur Gründung des Verein „Eltern für atomfreie Zukunft“ (EfAZ) am 19. Mai 1987 führte. Zunächst wollten sie die Bundesregierung dazu bewegen, das Energiewirtschaftsgesetz zu ändern, sodass einzelne Regionen aus dem Bezug von Atomstrom hätten aussteigen können.

Jung und alt aktiv gegen Atomenergie: Die „Eltern für atomfreie Zukunft“ zogen auch künstlerisch alle Register – hier eine „Delegation“ um Michael Sladek (Mitte) im fernen Hamburg (Bildnachweis: EWS).

Doch rasch kam Vereinsmitglied Michael Sladek zur Erkenntnis, dass die Bürgerinnen und Bürger die Energiewende von unten alleine stemmen mussten. Es war die Geburtsstunde einer „Rebellion“. Die EfAZ wurde kreativ: Bereits im November lud sie zum „Ersten Schönauer Energietag“ ein, der den Anstoß zum Start einer Stromsparkampagne im Folgejahr wurde. Sie gründeten die Theatergruppe „Wattkiller“, die mit einer gehörigen Portion Humor für das Thema Stromverbrauch, Stromsparen und alternative Formen der Energieerzeugung trommelten. Doch mit Sparen allein war der Kampf nicht zu gewinnen: Die Schönauer „Stromrebellen“ wollten aktiv in die umweltfreundliche Stromgewinnung einsteigen und betraten einen steinigen Weg, der schlussendlich zu der erfolgreichen Gründung der „Elektrizitätswerke Schönau“ (EWS) und der Übernahme des lokalen Stromnetzes führte.

Die „Eltern für atomfreie Zukunft“ unterstützen seit Anfang der 1990er Projekte, mit denen krebskranken Kindern und Jugendlichen, den späten Opfern der Tschernobyl-Katastrophe, in Kiewer Kliniken geholfen wird.


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Eltern für atomfreie Zukunft e.V.: Homepage.
  • Bernward Janzing: Störfall mit Charme. Die Schönauer Stromrebellen im Widerstand gegen die Atomkraft, Vöhrenbach 2008.
  • DVD: Die Schönauer Gefühl. Die Geschichte der Stromrebellen aus dem Schwarzwald. Eine Produktion des Fördervereins für umweltfreundliche Stromverteilung und Energieerzeugung Schönau im Schwarzwald e.V., Schönau 2007.

Badisches Déjà-vu – Die Abstimmung über die neue Verfassung Badens 1947

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18. Mai 1947 | „Als Treuhänder alter badischer Überlieferungen“ habe sich das badische Volk seine Verfassung gegeben, heißt es in der Präambel zur Badischen Verfassung von 1947. Eine dieser „alten“ Überlieferungen war es auch, das Volk über seine verfasste Grundordnung abstimmen zu lassen, so geschehen im Jahre 1919. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs war das Land Baden (bis 1946: Südbaden) Teil der französischen Besatzungszone und Teil verschiedener Gedankenspiele der Franzosen, wie mit der Region zwischen Freiburg und Karlsruhe zu verfahren sei. Als Vorsitzender der badischen Regierung setzte sich Leo Wohleb, zugleich Landesvorsitzender der Badisch Christlich-Sozialen Volkspartei (BCSV, Vorläuferin der CDU), dafür ein, die Souveränität seines Landes gegen etwaige Zusammenschlüsse mit den württembergischen Nachbarn zu verteidigen.

 

Im Spätherbst des Jahres 1946 liefen die Beratungen über eine neue badische Verfassung an. Die verschiedenen Regierungsparteien waren bemüht, ihren Vorstellungen und Interessen einen möglichst prägenden Einfluss auf den Entwurf zu verschaffen. Die BCSV machte sich beispielsweise für christliche Gemeinschaftsschulen stark, was die liberale Demokratische Partei (DP), die Sozialistische Partei (SP) und die Kommunisten (KP) ablehnten. Die Sozialisten und Kommunisten sprachen sich für weitreichende antikapitalistische Maßnahmen aus, die von einer tiefgreifenden Arbeitermitbestimmung bis hin zur Sozialisierung von Schlüsselindustrien reichten. Diesbezüglich erwies sich die BCSV als Bremser. Schlussendlich wurde der Verfassungsentwurf mit einer Mehrheit aus BCSV- und DP-Stimmen (32 bzw. 8) gegen die Stimmen von SP und KP (8 bzw. 4) angenommen. Nach der Zustimmung der französischen Militäradministration war es an den Badenerinnen und Badenern, ihr Votum abzugeben. Mit rund 68 % der abgegebenen gültigen Stimmen hatte die Verfassung des Volkes Segen und trat am Folgetag in Kraft.

Das Werk enthielt einige Formulierungen, wie sie in dieser Deutlichkeit in anderen Landesverfassungen nicht zu lesen waren. So regelten die Paragrafen 118 bis 121 sehr ausführlich die besondere Rolle von Parteien innerhalb der Demokratie und Paragraf 3 legte fest, dass „kein badischer Staatsbürger zur Leistung militärischer Dienste gezwungen werden [darf].“ Jeder habe das Recht auf Arbeit, die zugleich „sittliche Pflicht“ sei (§ 37). Die Verfassung des 1953 gebildeten Bundeslandes Baden-Württemberg hob die badische auf. Sehr zum Ärger einiger Badener wurde über deren Text nicht das Volk befragt.


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1968 auf oberschwäbisch – der „Venceremos“ erregt die Gemüter

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2. Mai 1969 | „Impotente Pauker“ kommen in den Genuss eines besonders günstigen Preises von 40 Pfennig: So stand es zumindest auf dem Cover der April/Mai-Ausgabe der Biberacher Schülerzeitung „Venceremos“ von 1969. Was dort auf dem Schulhof des örtlichen Wieland-Gymnasiums mit einer Auflage von 100 Exemplaren kursierte, war gedruckter Sprengstoff gegen die Werte und Moralvorstellungen der Elterngeneration. Mit der Losung „Durchstoßt das Sexualtabu“, einem kunstvoll gestalteten Penis und einem entspannt-nackten Teufelchen provozierten die jungen Herausgeber um Martin Heilig und Eckard (Ekke) Leupold von der Biberacher Außerparlamentarischen Opposition (APO) mit denkbar scharfen Mitteln. Um Skandale und neuartige Protestaktionen war die kleine, aber rührige APO in der oberschwäbischen Stadt nie verlegen gewesen. Gegründet im Zuge des Widerstandes gegen eine Wahlveranstaltung der neofaschistischen NPD im Frühjahr 1968, brachten die Mitglieder beispielsweise lautstark ihren Protest gegen Bundeskanzler Kurt Kiesinger und dessen Notstandsgesetze anlässlich seines Wahlkampfbesuchs am 22. April zu Gehör (und steckten dafür Prügel von anwesenden Biberacher Bürgern ein).

"Schweinkram, Pornografie" - so die Meinung zahlreicher erregter Bürgerinnen in Biberach im Jahre 1969 über die Schülerzeitung "Venceremos" (Bildnachweis: Stadtarchiv Biberach, Sig. L 16 Nr 6).
„Schweinkram, Pornografie“ – so die Meinung zahlreicher erregter BürgerInnen in Biberach im Jahre 1969 über die Schülerzeitung „Venceremos“ (Bildnachweis: Stadtarchiv Biberach, Sig. L 16 Nr 6).

Im Folgejahr wurde die örtliche Schülerschaft stärker als „revolutionäres Subjekt“ ins Auge gefasst: Der „Venceremos“ verband auf seinen hektografierten Seiten allgemeine Kapitalismuskritik mit Anprangerungen schulinterner Missstände, konservativer Lehrer und überholter Lehrmethoden. Das Echo auf die April/Mai-Ausgabe blieb jedoch beispielslos in der kurzen Geschichte des Blattes, wie der Historiker Frank Brunecker vom Museum Biberach nachzeichnete. Nach einer Anzeige kam es zu Hausdurchsuchungen bei den Verantwortlichen, der Elternbeirat verdammte das „pornographische“ Machwerk und die lokale Presse veröffentlichte wütende Artikel und Leserbriefe, die ein hartes Vorgehen gegen die „perversen Schweinereien einer Schülerclique“ forderten. Vor der Veröffentlichung hatte Ekke bereits fest mit einer Anzeige gerechnet, was ihm jedoch „scheißegal“ gewesen sei.

Die Fotografin Marga Schwoerbel dokumentierte lebhaft die Demo zum "Venceremos"-Prozess im Januar 1970 (Bildnachweis: Stadtarchiv Biberach, Sig. M 10.1 Nr. 4216, Aufnahme: Marga Schwoerbel).
Die Fotografin Marga Schwoerbel dokumentierte die bewegte Demo zum „Venceremos“-Prozess im Januar 1970 (Bildnachweis: Stadtarchiv Biberach, Sig. M 10.1 Nr. 4216, Aufnahme: Marga Schwoerbel).

Im Januar 1970 kam es zum sogenannten „Venceremos“-Prozess gegen Ekke, Oswald Schmid und Ulrich Weitz, nicht ohne vorherigen lautstarken Protest von APO-Mitgliedern und Sympathisanten am 13. Januar. Vor Gericht entgegnete der angeklagte Ulrich Weitz auf die Vorwürfe der Verbreitung pornografischer Schriften:

„Pornographie ist das, was die Bürger daheim in ihren Nachttischen haben, das ihnen Spaß macht (…) – nirgendwo in der Provinz hat man so viel Angst vor der APO wie hier in Biberach. Gewisse Leute haben also unsere Gefährlichkeit erkannt, und zwar nicht auf dem kriminellen, sondern dem politische Gebiet. Es ist ja ganz klar, dass wir genau das Gegenteil wollen von dem, was Pornographie ist. Wir sind eigentlich viel moralischer als diese Leute, moralischer im natürlichen Sinne.“ (zitiert nach Brunecker, 1968, S. 103f.)

Überraschend wurden die Angeklagten freigesprochen und der angedachte Schulverweis ebenso fallengelassen. Die Biberacher APO hatte über die „Spießermoral“ gesiegt, zugleich einer ihrer letzten Erfolge, denn die Bewegung zerbrach rasch.

(Wir danken dem Stadtarchiv Biberach sowie Frau Schwoerbel für die freundliche Bereitstellung des Archivmaterials).


Zum Weiterlesen und -forschen:

  • Frank Brunecker: 1968, Biberach 2018.
  • Haus der Geschichte Baden-Württemberg (Hrsg.): … Denn die Zeiten ändern sich. Die 60er Jahre in Baden-Württemberg, Stuttgart 2017.
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